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„Ich habe keinem der Kinder wehgetan“

Der vom Leben geschlagene berufslose Heiko S. hatte eine Erzieherin und sieben Kinder in einer Kita in Köpenick als Geisel genommen. Gestern wurde der Prozeß eröffnet  ■  Von Plutonia Plarre

Warum ausgerechnet eine Geiselnahme in einer Kindertagesstätte? Auf diese Frage suchten die Richter gestern im Prozeß gegen den angeklagten 30jährigen Heiko S. vergebens eine schlüssige Antwort. Der berufslose Mann war am 5. November 1995 mit einer Schreckschußwaffe in eine Kita in Köpenick gestürmt und hatte eine Erzieherin und sieben siebenjährige Kinder zum Teil mehrere Stunden festgehalten. Als einzige Forderung wollte er seine Schwester sprechen, die seine einzige Vertraute sei. Nachdem ihn die junge Frau zum Aufgeben überredet hatte, hatte er die letzten beiden Kinder gehen lassen. In sich zusammengesackt saß Heiko S. gestern auf der Anklagebank und trug stotternd seine bedrückende Lebensgeschichte vor. „Es war ein Horror.“

Mühsam nach Worten suchend, berichtete der zu DDR-Zeiten in Ostberlin aufgewachsene Mann, den Sprachfehler habe er seit seinem sechsten Lebensjahr. Das Stottern sei eine Folge der schweren körperlichen Mißhandlungen durch seinen Vater. „Das war ein Trinker.“ Manchmal habe ihn der Vater sogar nachts aus dem Bett geholt und verprügelt. „Ich bekam am meisten ab, aber meine Mutter hat er auch geschlagen.“ Aufgedeckt habe die Mißhandlungen schließlich sein Sportlehrer. Diesem sei aufgefallen, daß sein Rücken grün und blau geschlagen sei. Daraufhin sei der Vater in den Knast gekommen.

Nach der achten Klasse hatte Heiko S. die Sonderschule verlassen und sich „vom Tellerwäscher bis zum Transportarbeiter“ mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. 1988 wurde er nach Westberlin abgeschoben, nachdem er zuvor wegen staatsfeindlicher Hetze eine mehrmonatige Strafe abgesessen hatte.

In den letzten Monaten vor der Tat im vergangenen November habe er den Tiefpunkt erreicht gehabt, erzählte er gestern. Er habe Freundin, Wohnung und Arbeit verloren und in seiner Not wieder begonnen, Alkohol zu trinken. So sei es auch am Tattag gewesen. Warum er sich ausgerechnet zu einer Geiselnahme in einer Kita entschlossen habe, könne er beim besten Willen nicht sagen. „Ich war mit den Nerven runter. Wenn ich getrunken habe, werde ich schnell aggressiv und weiß nicht mehr, was ich mache.“ Bei der Polizei hatte Heiko S. nach der Festnahme zu Protokoll gegeben: „Ich wußte nicht mehr ein noch aus.“

Immer wieder beteuerte der Angeklagte, keinem der Kinder „wehgetan“ zu haben. Die als Geisel genommene Erzieherin, die Heiko S. mit der Waffe bedroht und gewürgt hatte, bestätigte dies gestern. Die Kinder seien zunächst zwar sehr erschrocken gewesen, hätten dann aber alles nicht mehr so ernst genommen. Sie hätten den Vorfall „gut verkraftet“. Fünf der Kinder waren damals längere Zeit mit Heiko S. allein gewesen, nachdem die Erzieherin von einer Mutter aus der Gewalt des Mannes befreit worden war. Der Prozeß wird kommenden Donnerstag fortgesetzt.

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