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„Ich habe es gesehen“

Goya-Radierungen zu Butoh-Tanz: „La quinta del sordo“ der Berliner ChoreografinAnzu Furukawa und ihrer Kompanie „Verwandlungsamt“ im Ballhaus Naunynstraße

Butoh wird erst sichtbar, wenn sich die Idee des Tanzes nicht mehr auf ein erlernbares Regelsystem richtet, sondern in die individuelle Körpererfahrung eindringt und das Ganze der Existenz, Leben und Tod, auszudrücken versucht. Das ist ein absoluter Anspruch, der praktisch nur selten eingelöst werden kann. Und der europäische Blick hat es nicht leicht damit, verlangt er doch nach objektiven, nachvollziehbaren Grundmustern, die ihn mittlerweile zwar verstören dürfen, aber immer noch eine Geschichte erzählen sollen. Die aktuelle Inszenierung im Ballhaus Naunynstraße, eine „Stumme Oper“, versucht sich nun an dem Ausdruck jenseits der Erzählung.

Anzu Furukawa und ihre Kompanie „Verwandlungsamt“ zeigen das Stück „Goya – la quinta del sordo“, in dem vier Gestalten an ihren Stühlen festgeschnallt sind. Die Stühle haben nur zwei Beine, die Gestalten kämpfen um ihr Gleichgewicht, zittern, krampfen, fallen um und stehen wieder auf. Sie sind mit den Gegenständen verwachsen, eine Behinderung, die eigenwillige Zeichen aussendet.

Wie kriechendes Getier bewegen sich die Darstellerinnen über die Bühne, mit stets zur Grimasse verzogenem, weiß geschminktem Gesicht, erleben ihren eigenen Körper und begegnen dem der anderen, fechten Rivalitäten aus, fügen sich Wunden zu und taumeln in erotischer Verzückung. Dazu dröhnt überlaut American Minimalism aus den Boxen: „Clapping Hands“ und „Different Trains“ von Steve Reich.

Anzu Furukawa choreografierte die „Stumme Oper“ nach Radierungen von Francisco de Goya. „Yo lo vi“ heißt dessen Sammlung, „ich habe es gesehen“, und bezeichnet die Grausamkeiten des Krieges: Mord, Folter, Vergewaltigung. Goya bildet die Bedrohung und Zerstörung des menschlichen Körpers ab, Furukawa versucht, diese Wucht in Bewegung umzusetzen. Dabei nimmt sie das metzgerhafte Abschlachten zugunsten einer noch Hoffnung vermittelnden absurden Geste deutlich zurück. Die in Harlekin- und Schelmenkostümen steckenden Tänzerinnen dürfen den Schrecken des Todes im Lachen mildern, sie spielen nicht nur Zerreißen und Zerfleischen, Suche und Verlust, sondern auch derbe Komödie im Stil der Commedia dell'Arte.

Furukawa, 1952 in Tokio geboren, gehört zu den weltweit agierenden Butoh-Performern, die den Avantgardetanz außerhalb der japanischen Grenzen bekannt gemacht haben. Sie erlernte klassisches Ballett und Modern Dance, bevor sie sich dem Butoh widmete. In den Siebzigerjahren begründete sie die Tokioter Kompanie „Dance love machine“, mit der sie dreiunfünfzig neue Butoh-Stücke entwickelte. Engagements und Gastprofessuren führten die Choreografin nach Brasilien, Nordeuropa und Deutschland.

Mittlerweile lebt Anzu Furukawa in Berlin. Hier erarbeitet sie Stücke, die nicht erzählen wollen und sich doch der Frage stellen, wie der Mensch sein Schicksal annimmt.

JANA SITTNICK

„Goya – la quinta del sordo“ läuft heute um 20 Uhr im Ballhaus Naunynstraße, Naunynstraße 27, Kreuzberg

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