„Ich denke, daß ich okay bin“

An Sonderschulen kämpfen Lehrer nicht nur gegen Vorurteile der Umwelt, sondern auch um das letzte bißchen Selbstbewußtsein der Kinder  ■ Von Anne-Kathrin Schulz

Wo Sebastian (alle Schülernamen geändert) seine Vormittage verbringt, wissen nur wenige. Der hoch aufgeschossene 14jährige, der Techno-Musik mag und später mal Automechaniker werden will, hat keine Lust mehr auf die vielen „blöden Sprüche“ von Leuten, die keine Ahnung haben und ihn „einfach wütend“ machen. Zumal er sich noch gut an damals erinnern kann, als in der dritten, vierten Klasse die Schulstunden immer länger und frustrierender wurden und er sich nur noch in der letzten Reihe verkroch, „weil ich bei allem der Langsamste war“. Trotzdem war er alles andere als froh, als er nach der fünften Klasse dann die Grundschule verlassen sollte: „Ich hatte doch keinen Bock, Sonderschüler zu werden!“

Genau das ist Sebastian jetzt seit drei Jahren, und inzwischen sieht der Achtkläßler der Paul-Braune- Schule für Lernbehinderte in Steglitz die Sache schon ganz anders: „Ich denke, das ich okay bin. Ich bin gerne hier, weil ich mein Tempo selbst bestimmen kann.“

Genau das meint sein Schulleiter Klaus Schulz, wenn er von den Vorteilen des „individuellen Unterrichts“ und den „pädagogischen Zensuren“ spricht. Die vierzehn LehrerInnen der Paul-Braune- Schule, je sieben Voll- und Teilzeitkräfte, müssen sich nicht mit starren Rahmenplänen herumschlagen. Immer zwei Klassenstufen werden zusammen unterrichtet, bewertet werden die 60 Kinder nicht nur nach ihren Leistungen, sondern auch nach dem Willen, mitzumachen. Lernen tun die SchülerInnen, so schnell es eben geht – lesen in der dritten Klasse, Prozentrechnung, Brüche und Dreisatz in der neunten, das Miteinander-Umgehen jeden Tag.

In jedem Klassenzimmer sitzen höchstens zwölf SchülerInnen. Anders würde es auch kaum gehen. In den Klassen 1 bis 9 sind Kinder und Jugendliche, die sich schlecht konzentrieren können, Gelerntes schnell vergessen oder Schwierigkeiten haben, sich in eine Gruppe einzugliedern. Einige haben minimale Gehirnschäden, etwa weil ihre Mütter während der Schwangerschaft alkohlsüchtig waren. Bei über zwei Dritteln liegen die Probleme aber in der Familie. Vernachlässigt von Eltern, die selbst mit dem Leben nicht zurechtkommen, fallen die Kinder meist schon früh durch extremes Verhalten auf. „Sie versuchen so Aufmerksamkeit zu bekommen“, erklärt Sonderschulpädagogin Ute Thümecke. Und ihre Kollegin Ulrike Mostertz ergänzt: „Eine ,Friß, Vogel, oder stirb!‘-Philosophie im Unterricht ist hier nicht drin.“

Gert wohnt in einem Heim. Der Erstkläßler kann keine zwei Minuten am Tisch sitzen bleiben. Während seine Mitschüler bunte Kreise auf Papier malen, rennt er minutenlang laut singend im Zimmer umher und wirft sich dann plötzlich auf das kleine rote Kindersofa an der Wand, wo er, reglos an einen Stofflöwen geschmiegt, liegen bleibt. Ute Thümecke bleibt gelassen: „Gert? Wenn du nachher Musik hören willst, mußt du jetzt kommen.“ Der Junge überlegt, steht auf, kommt und setzt sich. „Ja, Mami.“

So was komme häufiger vor, bestätigt Schulleiter Schulz, der Kontakt zwischen Schülern und Lehrern sei sehr eng. „Viele wollen hier das bekommen, was sie zu Hause nicht kriegen: Wärme und Zuneigung.“ Und so ist es nicht ungewöhnlich, wenn Schulz einen seiner Neuntkläßler, der straffällig geworden war, aus dem Jugendgefängnis abholt und nach Hause begleitet, „wo niemand auf ihn wartet“. Die Eltern könnten sie den Schülern zwar nicht ersetzen, so Schulz, aber: „Man muß ihnen klarmachen: Das kannst du alles, das vielleicht nicht, aber auch das ist kein Desaster.“

Außerhalb des Schulgebäudes in Lankwitz prasselt aber genau diese Meinung ständig auf die Schüler herab. „Ganz fiese Vorurteile“ macht Sonderschulpädagogin Mostertz immer wieder aus. „Trottel“, „Lahmarsch“ oder einfach nur „Sonderschüler“ – die Liste der Schimpfnamen ist lang, ihre Wirkung auf die ohnehin durch Mißerfolge gequälte Psyche der Kinder schlimm.

Davon kann Christel Schenk ein langes und lautes Lied singen. Ihre Tochter Vanessa, die die fünfte Klasse der Paul-Braune-Schule besucht, hatte kurz nach der Geburt eine Gehirnblutung und leidet unter einer extrem seltenen neurologischen Erkrankung. Laut Ausweis ist die Dreizehnjährige zu 100 Prozent behindert, ansehen kann man ihr das nicht. Vanessa ist heute ein kontaktfreudiges Mädchen, das wie 16 aussieht, viel lacht und redet und doch völlig anders ist als Gleichaltrige. „Manchmal verhält sie sich so, daß irgendwelche fremden Leute zu mir sagen, der hätte ich längst eine geklebt“, so Christel Schenk. Die Kinderkrankenschwester ist deshalb längst in die Offensive gegangen, auch beim Thema Sonderschule: „Das war die richtige Entscheidung. Ich habe keine Probleme, Leuten zu erklären, daß meine Tochter krank ist.“

Die Regel ist das allerdings keineswegs. Es gibt Kinder, deren Eltern niemals erzählen würden, daß ihr Kind auf die Sonderschule geht. Ein gesellschaftliches Problem, glaubt Lehrerin Thümecke: „Beim Begriff Sonderschule fällt oft sofort die Klappe, nur Psychiatrie ist noch schlimmer.“ Schulleiter Schulz wünscht sich, daß die Eltern seine Schule „nicht nur nach dem Namen beurteilen, sondern realistisch sehen, was wir leisten können“. Denn mit der intensiven Betreuung auf der Sonderschule kommen auch wieder die nötigen Erfolgserlebnisse, und viele Kinder werden ausgeglichener und weniger aggressiv. Vormachen wolle er sich aber nichts: „Unsere Schüler werden im späteren Leben immer Probleme haben, aber wenn einer den Sprung schafft, ist das für uns das Größte.“

Bis Ende 1997 möchte Schulz an seiner Schule eine zehnte Klasse und damit den Hauptschulabschluß anbieten. Während er glaubt, daß die 50 Prozent, die den Hauptschulabschluß schaffen, Zukunftschancen haben, sieht Lehrer Gregor Geitel für die Zukunft seiner Schützlinge schwarz: „Da haben es vielleicht die Schlechtesten am besten. Die können in den Behindertenwerkstätten arbeiten.“

Petra aus der neunten Klasse will nach der Schule in einem Pferdestall jobben. Sie wünscht sich eine Wohnung – „mit 22“. Ihr Traum: „Ich möchte eine Tochter haben und einfach ein ganz normales Leben.“