: „Ich bin nicht das Monster“
■ Verzweiflungstat: Haftstrafe für den 19jährigen Angeklagten
Der angehende Einzelhandelskaufmann, der im Frühjahr vergangenen Jahres den Zuhälter seiner Schwester erschossen hat, ist gestern vor dem Hamburger Landgericht zu einer Jungendstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt worden. Die Richter der Jugendkammer stuften die Verzweiflungstat des 19jährigen als Totschlag in einem minderschweren Fall ein.
Allen Beteiligten mag es schwer gefallen sein zu glauben, daß der junge Mann sein 25jähriges Opfer nach der Tat mit einer Stichsäge zersägt hat. Den Torso warf er in die Elbe, den Rest des Leichnams versuchte er im Kohleofen seiner kleinen Finkenwerder Wohnung zu verbrennen. Dort hatte der Zuhälter ihn besucht und ihm einen Rucksack voller Waffen gezeigt. Als die Pistolen auf dem Tisch lagen feuerte der 19jährige ein ganzes Magazin leer und verkroch sich dann auf dem Dachboden. Zuvor muß der Zuhälter die Schwester als „Hure und Schlampe“ beschimpft haben. „Wenigstens konnte ich dir helfen“, heißt es in einem Brief des Angeklagten, den er später für seine zwei Jahre ältere Schwester schrieb, in deren Wohnung er sich bis zu seiner Festnahme versteckt hielt.
Der Einzelhandelskaufmann war von Rostock nach Hamburg gekommen, um seine Schwester zu sehen, die nach der Maueröffnung im Westen ihr Glück gemacht hatte, wie er glaubte. Er fand eine Lehrstelle und eine Wohnung, faßte Fuß in einem neuen Lebensabschnitt und bewunderte den Freund der jungen Frau. Durch Zufall kam er dahinter, daß der Mann sie schlug und auf den Strich schickte, um für ihn anzuschaffen.
„Ich bin nicht das Monster, als das ich im Nachhinein dargestellt werde“, sagte der Angeklagte vor Gericht. „Aber in dieser Situation konnte ich nicht anders handeln“. Der 19jährige mit dem akkuraten Fassonschnitt war im Prozeß sichtlich bemüht, seine innere Anspannung unter Kontrolle zu halten. Wieder und wieder fuhr er sich fahrig mit den Fingern durch die Haare. Mit angestrengter Mimik versuchte er, älter zu wirken, als er tatsächlich ist – und machte dennoch einen eher kindllichen Eindruck. Sobald die Jugendrichter den Saal betraten, sprang er auf und nahm neben der Anklagebank eine strenge Haltung wie auf dem Kasernenhof an. Nach seinem Lebenslauf gefragt, brachte er nur stockend und weinend einige Silben hervor. Beim eigenen Geburtsdatum versagte ihm die Stimme.
Der Prozeß fand folgerichtig weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Als einzige Zeugin trat die Schwester auf.
Die psychiatrische Sachverständige Marianne Röhl kam vor Gericht zu der Einschätzung, daß der 19jährige sich für seine Schwester verantwortlich fühle und sie habe beschützen wollen. Dem bisher nicht vorbestraften Heranwachsenden wurde aufgrund seiner Persönlichkeit eine verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt.
Paula Roosen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen