IS-Opfer in Behandlung in Deutschland: Nach der Rettung bleibt das Trauma
Sie wurden von der Terrormiliz entführt, vergewaltigt, misshandelt. Hunderte Frauen werden nun in Baden-Württemberg psychologisch behandelt.
Das war ihr Zustand, als der deutsche Arzt Jan Ilhan Kizilhan sie im vergangenen Jahr in einem Flüchtlingslager in Nordirak sah – körperlich entstellt und seelisch so voller Narben, dass sie fälschlicherweise glaubte, ihre früheren Entführer vom Islamischen Staat wollten sie erneut verschleppen.
Inzwischen ist Yasmin 18 und eine von 1.100 Frauen, die aus der Gefangenschaft des IS entkommen sind und in Deutschland psychologisch behandelt werden. Es sind hauptsächlich Frauen, die den Jesiden angehören, einer religiösen Minderheit.
Das Pionierprogramm, das Kizilhan zusammen mit anderen betreibt, hat mittlerweile auch international Aufmerksamkeit erregt. Es basiert auf einer Grunderkenntnis: Das Trauma bleibt, lange nachdem die Frauen gerettet worden sind.
Kretschmann setzte das Programm auf
Man sieht es Yasmin an, wenn sie über das spricht, was sie durchgemacht hat. Sie beugt sich in ihrem Stuhl nach vorn, ringt ihre Hände, schaut auf den Boden. Aber dann blickt sie auf, und ihr Gesicht erhellt sich, als sie schildert, wie Kizilhan zum ersten Mal in ihr Zelt im Flüchtlingslager kam, ihr und ihrer Mutter sagte, dass er in Deutschland helfen könne.
Es war der 3. August 2014, als Kämpfer der Dschihadisten-Gruppe in die Sindschar-Region in Nordirak eindrangen, wo bis dahin weltweit die meisten der Jesiden lebten. Die Einwohner wurden in drei Gruppen aufgeteilt: Jungen, die zu IS-Kämpfern gemacht, ältere Männer, die getötet wurden, wenn sie sich nicht zum Islam bekehrten, und Frauen und Mädchen wie Yasmin, die man in die Sklaverei verkaufte.
Zehntausende Jesiden flohen in die Berge, wo die Militanten sie einkesselten. Die USA, der Irak, Großbritannien, Frankreich und Australien warfen Hilfsgüter ab. Aber viele Jesiden starben, bevor sie gerettet werden konnten.
Als die Tragödie immer größere Ausmaße annahm, wandten sich Mitglieder der schätzungsweise 100.000 Menschen starken jesidischen Gemeinschaft in Deutschland hilfesuchend an die Politiker in Berlin. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, entschloss sich zum Handeln.
Das Landesparlament stellte 95 Millionen Euro für den Zeitraum von drei Jahren bereit, um vom IS misshandelte Frauen – zumeist Jesidinnen, aber auch Christinnen und Schiitinnen – nach Deutschland zu holen.
„Wie kann die Menschheit so böse sein?“
Michael Blume, Experte für Minderheitenfragen im Staatsministerium, wandte sich an Kizilhan, einen auf Traumata spezialisierten Psychologen, Universitätsprofessor und Nahost-Kenner mit kurdischem Hintergrund.
Von Februar 2015 bis Januar 2016 besuchten dann kleine Gruppen von Fachleuten Flüchtlingslager im nördlichen Irak. Kizilhan selber, der eine Reihe von Sprachen und auch den jesidischen Dialekt beherrscht, unternahm 14 Reisen und sprach persönlich mit Frauen und Kindern – um herauszufinden, wer am besten von dem begrenzten Programm profitieren könnte.
„Ich bin erfahren, was Traumata betrifft, ich hatte schon mit Patienten aus Ruanda, Bosnien gearbeitet“. schildert Kizilhan. „Aber dies hier war sehr anders. Wenn du ein achtjähriges Mädchen vor dir hast und sie sagt, dass sie acht Mal vom IS verkauft und im Zeitraum von zehn Monaten 100 mal vergewaltigt worden ist – wie kann die Menschheit so böse sein?“
Am Ende wählte Kizilhan 1.100 Frauen und Mädchen aus, die heute im Alter zwischen vier und 56 Jahren sind. Die meisten Frauen werden in mehr als 20 Kliniken in Baden-Württemberg betreut, 70 sind nach Niedersachsen und 30 nach Schleswig-Holstein geschickt worden. Sie sind an nicht publik gemachten Orten untergebracht, unter besonderem Schutz, damit IS-Anhänger nicht an sie herankommen.
Zu den Frauen zählt eine Mutter, deren vierjährige Tochter von einem IS-Kämpfer verschleppt wurde. Er war fasziniert von ihrem blonden Haar und ihren blauen Augen, sagte, dass er sie „heiraten“ werde, wenn sie neun Jahre alt sei. Die Mutter entkam, aber die Kleine, heute sechs, ist weiter in der Gewalt der Extremisten. Die Mutter weint jedes Mal, wenn sie ein blondes und blauäugiges Mädchen auf der Straße sieht.
Wahrscheinlich bekommen sie Asyl
Alle Frauen und Mädchen haben die Genehmigung, zwei Jahre lang in Deutschland zu bleiben. Kizilhan zufolge würden die, die es wollen, wahrscheinlich dauerhaft Asyl erhalten.
Für Yasmin gibt es keinen Grund, zurück zu gehen. Die Gefühle überwältigen sie, als sie versucht zu beschreiben, warum sie sich damals selber anzündete. „Ihre Stimmen waren in meinen Ohren“, sagt sie. „Ich konnte sie hören, ich hatte solche Angst.“
Yasmin wohnt mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einem bescheidenen Haus in Deutschland. Sie hat ein Gerät am Bett, der ihr atmen hilft, weil ihre Nase und Luftwege so geschädigt sind. Kizilhan spricht von fünf bis 15 Operationen, die noch vor ihr liegen.
Yasmin träumt davon, eines Tages wieder in die Öffentlichkeit gehen zu können, ohne angestarrt zu werden. Sie möchte zur Schule und danach dann irgendetwas mit Computern machen. „Ich will wieder gesund werden, ein neues Leben anfangen.“
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