INTERVIEW: „Fremdenhaß, ein Menetekel viel tieferer Konflikte“
■ Wolfgang Thierse, SPD-Vize, zum Zusammenhang von Ausländerfeindlichkeit und Identitätskrise der Deutschen
taz: Herr Thierse, wie viele Initiativen aus SPD- Ortsvereinen zum Schutz von Ausländern kennen Sie?
Wolfgang Thierse: Ich sitze hier gerade nicht in der Parteizentrale und habe im Moment keine genauen Zahlen; es sind eine Menge. Ich weiß aber, daß eine Reihe von Landtagsfraktionen entsprechende Erklärungen abgegeben haben und daß sozialdemokratische Politiker — ich war einer von ihnen — in demonstrativer Absicht zu Asylbewerberunterkünften gegangen sind. Im übrigen halte ich das auch nicht für eine parteipolitische Aufgabe. Von wem eine solche Aktion gestartet wird, sollte ganz unwichtig sein.
Wenn man organisierte gesellschaftliche Gruppen ansprechen will, dann kommt man neben den Kirchen aber recht schnell auf Gewerkschaften und die Parteien links von der CDU.
Ich kann nur dazu aufrufen, daß sich die SPD- Mitglieder, wo immer es möglich ist, an solchen Aktionen des Schutzes für Ausländer ausdrücklich beteiligen.
Während des Golfkrieges haben Hunderte von Initiativen die taz bestürmt, ihre unzähligen Protestaktionen anzukündigen. Aktionen gegen Ausländerhaß, die in diesen Tagen stattfinden, müssen wir als Zeitung dagegen oft mühselig suchen. Wäre in einer solchen Situation nicht eine bundesweite Demonstration ein Mittel, um noch einmal Anlauf zu nehmen?
Ich halte das für denkbar. Aber wir wissen, daß solche großen Demonstrationen in der Vergangenheit einen Vorlauf von vier bis acht Wochen gebraucht haben. Da muß sich erst ein Ausschuß bilden, in dem die verschiedenen Träger sich einigen. Und es gibt noch andere Schwierigkeiten: Damals hatten die Demonstranten ein klares Feindbild — ob vor zehn Jahren gegen die Nachrüstung oder Anfang dieses Jahres gegen den Golfkrieg. Im heutigen Fall sind die rechtsradikalen Gruppierungen als Adressaten durch politisch-moralischen Protest nicht erreichbar. Und gegenüber der dumpfen Mehrheit muß es nicht eine Protestkundgebung sein, sondern eine Manifestation der Zuwendung zu Ausländern. Und die geschieht besser vielfältig vor Ort, was auch der Fall ist. Denkbar wäre, daß man Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Potsdam macht — und erst recht in den Städten, wo es in besonderer Weise ausländerfeindliche Ausschreitungen gegeben hat.
Zentral oder dezentral — das sei dahingestellt. Aber es ist doch auch für die SPD ein Armutszeugnis, wenn ihr Parteichef Hans-Jochen Vogel öffentlich bezweifelt, daß überhaupt 3.000 bis 5.000 Leute kämen.
Ja, aber dahinter steckt die Skepsis, daß nicht so sehr viele Leute deswegen auf die Straße gehen. Weil eben die Frontlinie der Auseinandersetzung nicht so eindeutig ist. Sie geht quer durch die Bevölkerung, bei manchen vielleicht quer durch ihr Herz. Weshalb ich nicht glaube, daß die demonstrativen Akte mehr sein können als Initiationsriten für eine Auseinandersetzung, die wir jetzt über Monate und Jahre zu führen haben. Und das kann eine Auseinandersetzung sein zwischen den nüchternen Einsichten, die ich als Staatsbürger habe, und den Ängsten, die mein Herz bewegen. Über die Ursachen dieser Ängste zu reden und sie abzubauen — das scheint mir wichtig.
Welche Ängste?
Der Schlüsselbegriff ist für mich die Angst vor Überforderung — im Osten wie im Westen. Im Westen die vor finanzieller Überforderung durch die deutsche Einigung und die Umwälzung in Osteuropa. Wer weniger verdient, hat um so mehr Anlaß zu Angst, daß ihm jetzt viel mehr Geld weggenommen wird. Und in den Mittelschichten gibt es eine Angst, daß Lebensstandard, der zivilisatorische und liberale Standard durch Osteuropa und Ostdeutschland gefährdet wird. Auf unterschiedlichem intellektuellem und sozialem Niveau haben die Menschen in Westdeutschland Angst vor der einfachen Tatsache, daß das Ende der Gemütlichkeit hinter der Mauer gekommen ist.
Und im Osten, da sind die Überforderungsängste existentieller Art. Gerade junge Leute, deren Selbstwertgefühl zutiefst irritiert ist, suchen sich nach dem uralten Muster des Sündenbocks jemanden, der noch schwächer ist. Das ist diese fatale Einbildung, daß man dadurch stärker und wertvoller wird, daß man einen noch Schwächeren erniedrigen kann. Wie kann das abgebaut werden? Erstens müssen die Leute tägliche Solidarität dadurch erfahren, daß der Aufbauprozeß, die Angleichung der Lebensverhältnisse gelingt. Und zweitens müssen die Subjekte und ihre Handlungsmöglichkeiten wieder gestärkt werden, gegen die objektive Dominanz des Westens und die Naturwüchsigkeit des Prozesses. Das eigentliche Thema scheint mir dann die Frage, wie die unausweichlichen Verteilungskonflikte friedlich ausgetragen werden können. Die Verkürzung auf die Asyldebatte allein ist eine gefährliche Verfälschung der Realität.
In der Debatte um das Asylrecht ist wieder einmal stapelweise Papier produziert worden. Der Erfindungsreichtum in der Frage, wie man diese kommunikativen Kompetenzen stärkt, der tröpfelt dagegen nur spärlich. Selbst von Bürger- und Bürgerinnenforen oder Runden Tischen ist bislang kaum die Rede.
Das ist nicht nur ein Problem der Politiker. Da sind die Wissenschaftler, die Medien, die Leute aus Kultur und Kirchen gefordert, sich vom Vordergründigen, von diesen allmächtigen Aktualitäten zu lösen, die das politische Geschäft bestimmen, und nach den eigentlichen Gründen für die Konfliktkonstellation zu fragen. Ich halte die Ausländerfeindlichkeit für ein Menetekel dieser viel tiefer gehenden sozialen Konfliktpotentiale, die mit dem Umbruchprozeß in Deutschland und Europa zu tun haben. Wir müßten nach diesen zwei Jahren innehalten, um über Ziele zu reden. Es ist doch eine Einbildung, daß die Ziele klar seien — etwa in diesen billigen Losungen: Der Sozialismus ist gescheitert, also hat der Kapitalismus recht gehabt, und wir müssen weitermachen wie bisher, nur ein bißchen besser.
Nein, wir müssen neu über demokratische Mitbeteiligungsmöglichkeiten reden, über Orientierungsfragen. Wir müssen Formen des Gesprächs und Austauschs entwickeln — zwischen den Deutschen aus Ost und West, zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten. Wir müssen uns wechselseitig unsere Biographien erzählen, unsere Ängste, Hoffnungen, müssen an unserem Selbstverständnis und Selbstwertgefühl arbeiten.
Wer soll da wem erzählen, und wo? Ost und West stoßen doch fast nur indirekt aufeinander.
Die Kirchen, der Kulturbereich, die Massenmedien müssen Vermittlungsformen schaffen, möglichst dezentral — gerade weil die Politiker da nicht irgend etwas dekretieren können.
Auch wenn die Diskussion um den Umgang mit Ausländern unter uns nur ein Teil des Problems ist: Zivilität wird ja nur in der täglichen Erfahrung gelernt, und gerade das Zusammenleben mit Ausländern ist doch eine immense Möglichkeit dafür. Würden Sie mir zustimmen, daß schon deshalb Asylbewerber auch in die neuen Bundesländer müssen?
Im Grundsatz ja, aber die Quoten sollten hier zunächst etwas niedriger sein, um uns Lernschritte zu ermöglichen.
Hängt das Lernen wirklich von den Zahlen ab? In Hoyerswerda wäre es wohl kaum anders abgelaufen, wenn man statt 230 nur fünfzig Asylbewerber hätte vertreiben können. Der Antisemitismus nimmt ja auch nicht mit der Zahl der Juden ab.
Natürlich hört man die „Asylanten weg“-Parolen auch an Orten der ehemaligen DDR, wo noch nie ein Ausländer gesehen wurde. Da überträgt sich ein ideologisches Klima via Massenmedien. Aber das kann ich doch nicht dadurch abbauen, daß ich sage: Jetzt nichts wie hin und Asylbewerberheime einrichten! Sich multikulturell zu öffnen — das muß das Ziel sein, aber ich kann das nicht sofort haben. Bestimmte Identitätsängste müssen abgebaut werden und im gleichen Prozeß ein anderes Verhältnis zu kultureller Fremdheit erzeugt werden. Ich weiß, daß in Identität immer etwas Zwanghaftes, etwas Ausgrenzendes liegt — und diese dialektische Spannung zwischen Identität und Fremdheit mag intellektuell heute leicht nachzuvollziehen sein. Aber wir können doch von den konkreten Menschen nicht verlangen, daß sie das, wofür die deutsche Philosophie 200 Jahre gebraucht hat, im gleichen Moment, in dem ihre Identität beruflich, weltanschaulich und sozial so angegriffen ist, begreifen, wie groß der Reichtum durch ein positives Verhältnis zur Nicht-Identität, zu kultureller Fremdheit ist. Interview: Michael Rediske
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