INTERVIEW: Weder fremd noch heimisch
■ Identitätsverlust treibt viele Einwanderer zu islamistischen Bewegungen
Gilles Kepel ist Islamwissenschaftler und Soziologe. Er arbeitet als Professor am Institut für Politische Studien in Paris. Sein erstes Buch „Les banlieues de l'islam“ beschrieb das Erwachen des Islam in Frankreich. In seinem neuen Buch „Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch“ (Piper-Verlag) zeigt Kepel Parallelen auf zwischen den fundamentalistischen Bewegungen der drei Buchreligionen.
taz: Wie ist es im Falle der französischen Moslems um die jeder Religion im Gesetz garantierte, freie Ausübung der Religion bestellt?
Gilles Kepel: Oft fehlt es an Möglichkeiten, die Religion in der Gemeinschaft auszuüben. Die Zahl der Moscheen und Gebetshäuser ist immer noch gering. Ersatzweise findet man sich in Garagen oder Privatwohnungen zusammen. Wird der Plan zum Bau einer Moschee bekannt, befürchtet die Bevölkerung der Umgebung die Übernahme der Moschee durch islamische Fundamentalisten. Das negative Bild, das die meisten Franzosen vom Islam haben, sorgt dafür, daß man alles daransetzt, diesen Bau zu verhindern. Der Bürgermeister verweigert mit Blick auf seine Wiederwahl die Baugenehmigung, und das Projekt stirbt.
Ist dieses negative Bild nur eine weitere Spielart der Ausländerfeindlichkeit?
Man hat den Islam in Frankreich lange Zeit als Mittel zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in den Vorstädten genutzt. Mit der islamischen Revolution im Iran und nach den Geiselnahmen radikal-islamistischer Terrororganisationen, die nicht nur Gegner des Islam trafen, ändert sich das Klima in Frankreich. Selbst die französische Linke wich nun erschreckt zurück (bei einer Umfrage 1989 brachten 71 Prozent der befragten Franzosen den Islam mit dem Begriff „Fanatismus“ in Verbindung). Ein weiterer Grund ist sicherlich die Ausländerfeindlichkeit, die in Zeiten steigender Arbeitslosenzahlen bekanntlich zunimmt.
Versuchen die Staatschefs der Maghrebstaaten, die ja den Großteil der Immigranten stellen, die moslemische Bevölkerung Frankreichs zu kontrollieren?
Ganz bestimmt sogar. Nehmen wir zum Beispiel Algerien. Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die algerische Politik völlig verändert. Nachdem die Staatspartei FLN die Emigration nach Frankreich und die Annahme der französischen Staatsbürgerschaft lange Zeit verteufelt hatte — schließlich hatte man den langen und blutigen Befreiungskrieg nicht geführt, damit die Landsleute nun Franzosen wurden — malte man sich nun aus, was bei der Rückkehr von einer Million Algerier in ihre krisengeschüttelte Heimat geschehen würde. Der Kessel würde explodieren. Außerdem ist die algerische Regierung besessen von der Idee einer jüdischen Lobby in Frankreich, so daß sie versucht, eine arabische Gegenlobby zu schaffen, die bei den französischen Wahlen die Interessen der FLN vertreten soll. Besonders logisch ist das nicht, denn viele französische Staatsbürger algerischer Abstammung haben ihre Heimat verlassen, weil sie mit der dortigen Regierung nicht einverstanden waren.
Die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ist viel einfacher, als zum Beispiel die deutsche. Sind ihre Landsleute jedoch erst Franzosen geworden, wird es für Algerien fast unmöglich, sie weiterhin durch behördliche Schikanen zu kontrollieren. Als letztes Mittel bleibt die Religion. Doch hat die FLN mit der Entsendung einheimischer Religionsgelehrter bisher wenig Glück gehabt. Viele entpuppten sich nach ihrer Ankunft in Frankreich als Mitglieder der regierungsfeindlichen Bewegung „Front islamique du Salut“ (FiS).
Was bringt junge Moslems dazu, ihr Heil in islamistischen Bewegungen zu suchen?
Oft ist es der doppelte Identitätsverlust — weder in der alten Heimat noch in Frankreich fühlen sie sich akzeptiert. Während der Umfragen für mein Buch „Die Vorstädte des Islam“ hatte ich in einem Vorort von Marseille ein Gespräch mit einem jungen Familienvater, der Gründer eine Reislamisierungsgruppe war. Auf meine Frage: „Sind sie Franzose oder Algerier?“ antwortete er mir mit einem typisch südfranzösischen Akzent in der Stimme: „Ich bin weder Algerier noch Franzose. Ich bin Marseillais und Moslem.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen