Hype um Big Data: Big Brothers große Schwester
Die Stasi wollte noch jedes Individuum „kennenlernen“. Heutige Geheimdienste machen sich diese Mühe nicht mehr: Sie glauben „Big Data“ sei die Lösung.
BERLIN taz | „Warum macht ihr keinen Aufstand in den Straßen?", fragte der Sicherheitsexperte und Internetaktivist Jacob Appelbaum sein Publikum bei einer netzpolitischen Veranstaltung in Berlin. Kurz zuvor hatte die Bundesregierung lapidar bekannt gegeben, dass der NSA-Whistleblower Edward Snowden in Deutschland kein Asyl erwarten dürfe.
Appelbaum, weiß natürlich selber, dass die Straße nicht der angestammte Lebensraum der Hackerkultur ist. Was er gleichzeitig sicher frustriert zur Kenntnis nehmen muss, ist die relative Gleichgültigkeit einer Mehrheit gegenüber dem NSA-Skandal und ganz allgemein der Datensammelwut der Sicherheitsbehörden.
Auch wenn den meisten Menschen die geheimdienstlichen Verflechtungen etwas unheimlich sein mögen, wirklich stören wollen sie sich nicht daran. Angst haben sie nicht vor ihrem Staat und der vermeintlichen Macht, die er repräsentiert, sondern vor Unsicherheit und Ohnmacht. Im Terrorismus, der doch kein Gesicht hat, findet diese Angst seine ideale Projektionsfläche. Staatliche Kontrolle verspricht Sicherheit, besorgt um den Eingriff in die eigene Privatsphäre brauchen wir nicht sein. Wir haben schließlich nichts zu verbergen.
Viel wichtiger ist: Niemand in den Geheimdiensten interessiert sich für mich, die Person X, meine Vorlieben und -leben. Niemand dort liest all die E-Mails, transkribiert die Telefongespräche oder observiert die Grillpartys im Schrebergarten. Jene gesammelten Metadaten meiner Mails und Telefonate auf den NSA-Servern ermöglichen statt dessen, eine Norm festzulegen, ein Mehrheitsverhalten, von dem im Interesse unser Sicherheit relevante Abweichungen gesucht werden können. Mit jeder unverschlüsselt verschickten Einladung zur Gartenparty kommen wir dem internationalen Terrorismus genauer auf die Spur.
Jenseits der Wahrnehmungsschwelle
Die Einwände, dass die Speicherung der Daten einzelner Personen eben nicht nur im Dienste der Statistik stünde, sondern im Zweifelsfall über Jahre rückwirkend einen viel später entstehenden Verdacht gegen Person X begründen können, ist natürlich korrekt. Jedoch sind die Fälle, in denen das passiert so wenige, dass sie für die Mehrheitsbevölkerung praktisch jenseits der Wahrnehmungsschwelle existieren.
Insofern hinkt der gern gewählte Vergleich zeitgenössischer datengestützter Geheimdienstarbeit mit der Stasi tatsächlich. Der DDR-Geheimdienst hat nämlich nicht die Abweichung von statistischen Normalwerten gemessen, sondern die von einer artifiziell gesetzten ideologischen Norm. So hat er sich tatsächlich noch für jede einzelne DDR-Bürgerin interessieren müssen; ein überaus aufwendiges Unterfangen, das dazu kaum unbemerkt an den Zielen von Observation, Zersetzung und Indoktrination vorüber gehen konnte.
Die heutigen, stillen Überwachungsmethoden dagegen sind in ihrem Idealzustand vergleichsweise vorurteils- und diskriminierungsfrei. Der Normalzustand wird „nur" gemessen, und nicht vorherbestimmt. Es gibt kein eindeutig richtiges oder falsches Verhalten, nur eine statistisch messbare Norm und Abweichungen davon. Wir bestimmen mit unserem Verhalten, wer die anderen sind.
Gelegentliche Kollateralschäden
Das Ausmaß der Überwachung wird für die Überwachten –uns alle– auf diese Weise kaum erfahrbar. Weder ist sie selbst, noch sind ihre unmittelbaren Folgen im Alltag ohne weiteres spürbar. Es ist gerade in der individuellen Wahrnehmung ein großer Unterschied, ob geringste Abweichungen von einer ideologischen Norm sofort sanktioniert werden, oder ob man angelegentlich von einem Teenager in den USA hört, den ein missverständlicher Facebookeintrag für ein paar Monate hinter Gitter bringt.
Einen Unterschied macht diese mathematische Herangehensweise auch rein technisch. Wer es nicht darauf absieht, jede einzelne Regung jedes einzelnen Menschen unmittelbar kontrollieren zu wollen, ist mit einer Datensammlung und ein paar Programmiererinnen gut bedient.
Die Hoffnung, dass menschliche Unberechenbarkeit und Fehlbarkeit dabei Datenmüll in nicht penetrierbaren Mengen produziere, unterschätzt die Quantifizierbarkeit eben dieser Fehler und Unwägbarkeiten. Gewiss ist Person X in ihrem eigenen Leben unverwechselbar individuell. Spätestens ihre Teilhabe an der Welt, die ganz wesentlich durch speicherbare Kommunikation geschieht, folgt Normen und Gewohnheiten, die sie mit einer Anzahl anderer Menschen teilt. Mehr braucht Big Data nicht, als den statistisch verwertbaren Teil unserer Leben.
Diese Quantifizierbarkeit macht uns zu Zielen von Werbung und eben auch zu Einträgen in den endlosen Zahlenreihen der NSA. Während George Orwells Big Brother noch ein finsterer Psychologe war, der das Individuum brechen wollte, ist seine Nachfolgerin eine Mathematikerin, die gar kein Individuum mehr kennt, sondern nur noch die statistischen Norm und eben Abweichungen davon.
Projektionen gegenwärtigen Wissens
Was Big Data im Bereich der Sicherheitspolitik jedoch verschleiert, ist, dass die Quantifizierbarkeit vergangenen Geschehens oder Verhaltens eben keine „sichere" Vorhersage, zum Beispiel über Terroranschläge zulässt. Zukünftiges bleibt zwangsläufig unscharf. Wahrscheinlichkeiten, auf welcher Berechnungsgrundlage auch immer, bleiben immer nur Projektionen gegenwärtigen Wissens, die sich genauso gut erfüllen, wie auch nicht erfüllen können.
Auch kommerzielle Datensammler operieren in genau diesem Raum des Zweifels. Im Gegensatz zur geheimdienstlichen Überwachung interessieren sie sich aber gerade nicht für die Abweichung von der statistischen Norm. Produkte werden für einen Massenmarkt entwickelt, Bedürfnisse zu kleiner Minderheiten werden aus geschäftlicher Vernunft heraus nicht berücksichtigt. Was für die Einzelne die Welt bedeuten kann, ist statistisch nicht der Rede wert.
Der Mehrheit ist das so gleichgültig wie die Überwachung. Hinreichend gut versorgt lebt sie so ein Leben, dass weitestgehend frei von spürbarer staatlicher Repression in geordneten Bahnen verläuft. Geheimdienste und Konzerne informieren sich so im Interesse dieser Mehrheit über deren durchschnittliches Leben. Die durchaus vorhandene qualifizierte Kritik von Netzaktiven und Bügerrechtsbewegten wird immer hörbarer, hat diese Ruhe aber bisher kaum nachhaltig stören können.
Legitimität statt Legalität
Das Recht des Individuums, nicht erfasst zu werden und für abweichende Meinungen nicht behördlich überwacht zu werden ist zwar ein hohes, aber auch ein sehr abstraktes und damit schwer vermittelbares Gut. Irgendwo auf dem Weg in die Informationsgesellschaft (und nach allem was wir wissen, auch schon sehr viel früher) haben die westlichen Demokratien entschieden, dieses Gut nachrangig zu behandeln.
Sie folgen dabei nicht ihren eigenen Gesetzen, sondern wie Angela Merkel es im Interview mit der Zeit ausdrückt, einer davon losgelösten Abwägung von Verhältnismäßigkeit. Dass hier also Legitimität Legalität ersetzt, sollte ein Warnschuss für alle Rechtspositivisten sein, die glauben, dass Gesetze wirksam Normen setzen könnten, denen auch ein Machtapparat (im Zweifelsfall mit anwaltlicher Hilfe) brav Folge leisten würde.
Genauso ist die datengestützte Geheimdiensttätigkeit Anlass zur Sorge für jene, die formal wie inhaltlich zu stark von der statistischen Norm abweichend kommunizieren, reisen, kurz: leben. Im Zweifelsfall werden sie sich nicht unbedingt auf den Schutz durch die Mehrheit verlassen können. Ihre Ohnmacht gegenüber staatlichem Zugriff ist real und keineswegs ein Hirngespinst.
Die so bestehende Benachteiligung von gewählten und zufälligen Minderheitenpositionen und die mangelnden Aufstände dagegen demonstrieren, wie unsolidarisch unsere Gesellschaft konstituiert ist. Das zu ändern ist keine Frage guter Anwälte oder ausgefuchster Kryptografie (wenn auch beides seinen praktischen Nutzen haben kann), sondern eine von politischem Willen und Durchsetzungsfähigkeit.
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