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Hygiene und ihr Gegenstück
Nicht wenige Anthroposophen sehen den Umgang mit der Coronapandemie kritisch. Warum das so ist, kann ein Blick in die Schriften Rudolf Steiners beantworten
Von Wolfgang Müller
Wie unterscheidet sich eigentlich das anthroposophische Verständnis von Gesundheit und Krankheit von dem heute üblichen? Rudolf Steiner hat das einmal in einem Vortrag 1910 durch einen Vergleich erläutert: Man stelle sich ein Zimmer voller Fliegen vor, und die Frage ist: warum so viele? Die gängige Wissenschaft werde dann etwa darauf kommen, dass der Raum ziemlich schmutzig ist, die Fliegen fühlen sich da in ihrem Element. Die Anthroposophie würde dieser Erklärung zustimmen, aber weiterforschen und womöglich herausfinden: Hier lebt ein Faulpelz, der niemals putzt, das ist der Ursprung der Misere. Die etablierte Wissenschaft aber, so Steiner, werde das belächeln und sagen: „Sieh einmal, was das für ein grenzenloser Aberglaube ist: dass die Faulheit wie eine Art Persönlichkeit sei, die nur zu winken brauchte, und dann kämen die Fliegen herein! Da ist die andere Erklärung doch richtiger, die das Vorhandensein der Fliegen durch den angehäuften Schmutz erklärt!“
Natürlich ist das nur eine Art Gleichnis, aber es verdeutlicht, warum die Anthroposophie immer wieder als unwissenschaftlich abgekanzelt wird, während sie sich selbst als die bessere, gründlichere Wissenschaft versteht. Eben eine Wissenschaft, die auch in Bereiche hineinleuchten möchte, in denen man mit der gängigen Empirie nicht weiterkommt. Sicherlich könnte man, um im Bild zu bleiben, jeden Tag die Zahl der Fliegen und sogar noch deren „Reproduktionsfaktor“ bestimmen – nur dass man den Kern der Sache noch nicht einmal berührt. Ihn erreicht man erst, wenn man sich an den heute geradezu dissidenten Gedanken heranwagt, dass etwas Unsichtbares, äußerlich kaum Nachweisbares das Entscheidende sein könnte, in diesem Fall der mentale Zustand eines Menschen. Tatsächlich war Steiner der Auffassung, dass „alles, was materiell zum Ausdruck kommt, seine geistigen Hintergründe hat“. Und er kritisierte scharf die vermeintlich so aufgeklärte Moderne und ihr „Hängenbleiben an der Oberfläche“.
Gewiss ist, was hinter der Oberfläche liegt, oft schwer fassbar. Das gilt etwa auch für die anthroposophische Sicht, dass jeder Mensch – im Sinne von Reinkarnationen – schon einige Leben durchlief. „Beweise“ dafür wird es nicht geben, allenfalls die allmählich wachsende Empfindung, dass die menschlichen Wirklichkeiten auf diese Weise lesbarer werden. Tatsächlich war Steiner überzeugt, dass auch Krankheiten karmische Hintergründe haben könnten, beim Einzelnen wie auch in Epidemien.
Selbstverständlich lässt sich dergleichen leicht skandalisieren, so als ob hier einem schlichten körperlichen Ablauf – dass etwa Viren den Weg von Person A zu Person B finden – ein verborgener Sinn angedichtet würde, vielleicht gar aufgeladen mit Schuldkomplexen und einem Fatalismus, dass man das so hinnehmen müsse. Steiner wies das zurück, „denn sonst könnte man die Stube schmutzig lassen“. Das heißt, das medizinisch Naheliegende ist zu tun, zugleich aber nüchtern weiterzuforschen, so wie das in anderen Bereichen selbstverständlich ist: den eigenen Neurosen bis in die Kindheit nachzuspüren hält heute praktisch jeder für sinnvoll, nicht um das Vergangene wie ein Urteil zu akzeptieren, sondern, im Gegenteil, um ihm frei begegnen zu können. Steiner treibt die Sache nur noch weiter zurück: mit der Aussage, dass das in früheren Existenzen Durchlebte mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit ins Heutige hineinwirke. Ein Gedanke zweifellos, der Behutsamkeit verlangt, kein Stoff für esoterische Bescheidwisserei.
Stoff für esoterische Bescheidwisserei? Behutsamkeit ist angesagt
Aus diesen Kontexten schauen viele Anthroposophen mit Skepsis auf den gegenwärtigen Umgang mit der Pandemie, weil er ihnen auf die greifbare Seite des Geschehens fixiert scheint, ihrer Ansicht nach sozusagen die Fliegenzählerei, und keinerlei andere Perspektiven in den Blick bekomme.
Ohnehin widersprechen Anthroposophen einem rein negativen Blick auf Krankheiten. Sosehr es sich missdeuten lässt: Die Auseinandersetzung mit Krankheiten könne für die menschliche Entwicklung bedeutsam sein. Schon Steiner wandte sich gegen den Versuch, möglichst jedes Leiden durch Impfung zu eliminieren. Einige leiten daraus eine komplette Impfverweigerung ab. Steiner selbst war pragmatischer. Als während des Ersten Weltkriegs die Pocken grassierten, ließ er die Kinder in einem Anthro-Hort impfen und auch sich selbst. Nur, so betonte er, müsse der Eingriff auf der körperlichen Ebene ein „Gegenstück“ haben: „Wenn man auf der einen Seite Hygiene übt, muss man andererseits die Verpflichtung fühlen, den Menschen, deren Organisation man umgewandelt hat, auch etwas für die Seele zu geben.“
Was damit gemeint sein könnte, ist wohl heute, wie schon zu Steiners Zeit, kaum mehr klar. Aus seiner Sicht jedenfalls nicht nur frommer Zuspruch oder eine laue Spiritualität, sondern ein völlig neuer Aufbruch, um jene geistigen Wirklichkeiten zu verstehen, von denen wir heute quasi nur die Außenseite sehen. Dieser ernste Erkenntniswille ist – mehr als einige angreifbare Steiner-Zitate – der eigentliche Skandal der Anthroposophie. Sie stört die geistige Bequemlichkeit einer Epoche, die viel von physischer Optimierung, aber sonst recht wenig versteht: „So werden die Seelen leidender, während das äußere Leben gesünder gemacht wird.“