Hungersnot in Ostafrika: Paradoxon Somalia
Es gibt keine staatlichen Strukturen, in Somalia herrschen Krieg und Zerfall. Und dennoch funktioniert einiges in dem ostafrikanischen Land. Eine Länderkunde.
BERLIN taz | Wenn dieser Tage Tausende Somalis den Hungertod sterben, können ihre begüterten Landsleute das am Smartphone mitverfolgen. Am 12. Juli, während die internationalen Hungerhilfsappelle für Somalia immer lauter wurden, eröffnete die größte Telefongesellschaft im seit zwanzig Jahren eigenständigen nordsomalischen Teilstaat Somaliland, Telesom, das erste 3G-Netzwerk des Landes. Den 1,5 Millionen Somalis mit Netzempfang stehen nunmehr modernste Apps aus aller Welt offen.
Der boomende Mobilfunksektor Somalias ist eines der vielen Wunder eines Landes, das seit zwanzig Jahren weltweit als Inbegriff des Chaos gilt. Seit über zwanzig Jahren gibt es in Somalia keinen Zentralstaat mehr. Aber der Handyempfang ist besser als im Nachbarland Kenia, die Reichweite moderner Technologien größer als im Nachbarland Äthiopien. Das alte somalische Händlervolk hat zwanzig Jahre Staatenlosigkeit genutzt, um sich früher als viele afrikanische Kollegen global zu vernetzen und Somalias alte Brückenfunktion zwischen Afrika und Asien geschickt zu nutzen.
Staatliche Ordnung gibt es nur in Teilgebieten, ohne nachhaltige Stabilität und internationale Anerkennung. Und es gibt keinen dauerhaften Frieden. Ein Viertel der somalischen Bevölkerung ist heute auf der Flucht, die Unterernährungsrate ist die höchste der Welt. Das Nebeneinander von bitterem Elend und ökonomischer Innovation, nationalem Dauerkonflikt und lokaler Stabilität ist das somalische Paradoxon, das man begreifen muss, um den Somalis heute wirksam helfen zu können.
Das Land am Horn von Afrika mit der längsten Küstenlinie und den größten Territorialgewässern des Kontinents hat schätzungsweise 10 Millionen Einwohner auf knapp 640.000 Quadratkilometern. Im Mittelalter gab es hier mächtige Handelsreiche. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die beiden Kolonialgebiete Italienisch-Somaliland (um Mogadischu) und Britisch-Somaliland (um Berbera).
Bei der Unabhängigkeit 1960 schlossen sich beide zu Somalia zusammen. 1969 putschte Diktator Siad Barre, der 1991 von Rebellen gestürzt wurde. Seitdem hat Somalia keinen stabilen Staat mehr, mit Ausnahme der Republik Somaliland, die das einstige britische Kolonialgebiet umfasst.
Die UNO rief vorletzte Woche für mehrere Provinzen im Umland von Mogadischu eine Hungersnot aus, die in milderer Form ganz Südsomalia sowie Teile der Nachbarländer betreffen soll. Über 12 Millionen Menschen insgesamt brauchen laut UNO dringend Hilfe. Eine milliardenschwere Hilfsaktion ist im Gange und konzentriert sich derzeit auf somalische Flüchtlinge in Kenia und Äthiopien. (d.j.)
Niemand will den Zentralstaat
Einig sind sich so gut wie alle Somalis in der Ablehnung des Wunschziels der internationalen Gemeinschaft: ein starker Zentralstaat in Mogadischu. Das düstere Erbe des letzten Staates in Somalia wirft bis heute seinen Schatten. Militärdiktator Siad Barre, ein Gewaltmodernisierer vom Schlage Saddam Husseins und Muammar al-Gaddafis mit ähnlichem Hang zu Personenkult, schmiedete aus Somalia ab seinem Putsch 1969 eine aggressive, nationalistische Militärdiktatur.
Das war schwer zu ertragen für eine nomadisch geprägte Gesellschaft, an der die Kolonialzeit kaum Spuren hinterlassen hatte. Zweimal zog Barre in den Krieg gegen Äthiopien und verlor. Danach traten die Landbevölkerungen in den bewaffneten Aufstand. Anfang 1991 rückte eine bunte Koalition von Rebellen in Mogadischu ein, Siad Barre floh, die Somalis jubelten.
Doch über den weiteren Weg waren sich die Rebellen uneins. Die aus dem Norden, am härtesten vom Krieg gezeichnet, gingen nach Norden zurück und errichteten das alte Britisch-Somaliland 1991 neu als Republik Somaliland. Im Rest Somalias, vor allem in Mogadischu und im Süden, bekämpften sich Warlords. Es entwickelte sich eine schlimme Hungersnot. Ähnlich wie heute schwoll der internationale Ruf nach Eingreifen an. Eine UN-Mission blieb zahnlos. Um humanitäre Hilfe zu schützen, landeten im Dezember 1992 US-Marines am Strand von Mogadischu mit martialischem Gehabe, als wäre es die Normandie 1944. Sie wurden zur Zielscheibe. Im Oktober 1993 wurden 19 US-Soldaten grausam in Mogadischu getötet, in Reaktion gab es verheerende Luftangriffe mit Hunderten Toten. Die USA zogen ab.
Somalia verschwand danach praktisch von der Weltkarte. Es blieb in der internationalen Debatte der Begriff "Somalisierung" als abschreckendes Modell für kriselnde Staaten weltweit. Hochgerüstete Clanmilizen teilten sich das Land untereinander auf, führten Krieg gegeneinander und stritten auf Friedenskonferenzen. Eine Regierungsbildung nach der anderen verlief im Sand.
Derweil florierte die informelle Wirtschaft. Aber sie wurde nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York schwer getroffen: Die informelle Geldwirtschaft der Somalis kam in den Verdacht, als Geldwaschanlage für al-Qaida zu dienen; der florierende somalische Viehexport wurde Opfer eines saudischen Embargos; die reichen Fischbestände wurden asiatischen Raubflotten überlassen. Dies begünstigte zwei Entwicklungen, die Somalia heute als globales Sicherheitsrisiko erscheinen lassen: Piraterie und ein militanter, gewaltbereiter Islamismus.
Das islamische Recht
Die somalischen Islamisten, die heute verteufelt werden, haben ihren Ursprung in pragmatischen Überlegungen der Händlerschicht. Als Somalia sich im Chaos einrichtete und die Warlords sich von einer gescheiterten Friedenskonferenz zur nächsten hangelten, brauchte die Geschäftswelt trotzdem Rechtssicherheit - und die lieferte mangels Staat das islamische Recht. Ein Netzwerk islamischer Gerichte entstand und sagte im Namen des Islam den Clanmilizen den Kampf an. Im Juni 2006 übernahm die "Union Islamischer Gerichte" in Mogadischu die Macht. Erstmals seit vielen Jahren kehrte in der Hauptstadt Frieden ein.
Das widersprach allen Friedensplänen, die auf Ausgleich unter Warlords setzten, und die Welt war alarmiert, weil es Islamisten waren. Äthiopien, Somalias alter Erzfeind, marschierte Ende 2006 in Mogadischu ein, international bejubelt. Die Islamisten waren weg, der Frieden auch. Eine Übergangsregierung wurde eingesetzt, im Lande selbst verachtet. Die Äthiopier zogen 2008 wieder ab.
Der Krieg spitzte sich danach zu. Die Heißsporne unter den Islamisten bildeten eigene Gruppen, führend darunter die Miliz al-Shabaab (Jugend). Die bedächtigeren unter ihnen boten sich nach Äthiopiens Abzug als Ordnungsmacht an. So kam es zu dem Kuriosum, dass der einstige Führer der Union Islamischer Gerichte, Sheikh Sharif Ahmed, den Äthiopien im Dezember 2006 unter dem Beifall des Westens von der Macht vertrieben hatte, im Januar 2009 auf einem afrikanischen Gipfel unter dem Beifall des Westens erneut zu Somalias Präsident gekrönt wurde.
Sharif ist bis heute im Amt und bekämpft mittels einer afrikanischen Eingreiftruppe die Shabaab. Die Welt erkennt seine Regierung an, aber sein Herrschaftsgebiet ist kaum größer als der Vatikan, eine schmale Küstenfront Mogadischus samt Hafen und Flughafen. Sein Regime gilt als extrem korrupt, es veruntreut nach Angaben seiner eigenen Rechnungsprüfer fast die gesamte Auslandshilfe. Die Shabaab kontrollieren halb Mogadischu und fast ganz Somalia außerhalb von Puntland, Somaliland und einigen zentralsomalischen Clangebieten.
Die Pattsituation
Wenn etwas in dieser Pattsituation funktioniert, dann der Handel: Im Land selbst wird ja nichts produziert, und es gibt keine anderen Einkommensquellen. Den Rechnungsprüfern in Mogadischu zufolge exportiert allein Kenia jährlich Qat im Wert von 250 Millionen Dollar nach Somalia; im Gegenzug verkaufen südsomalische Hirten in Kenia ihr Vieh. Die Viehexporte allein aus Südsomalia wurden 2010 auf 360 Millionen Dollar geschätzt. Dazu kommen die Einnahmen Somalilands. Der Umsatz der Mobilfunkfirmen soll allein in Südsomalia bei 540 Millionen Dollar im Jahr liegen. Die Regierung in Mogadischu verzichtet darauf, dies regulär zu besteuern, mit Ausnahme von hohen Hafengebühren.
Über den von Shabaab kontrollierten Hafen Kismayu läuft ein schwunghafter Handel mit Holzkohle für die Golfstaaten; nach UN-Recherchen verdienen die Shabaab daran jährlich 180 Millionen Dollar. Importiert werden Lebensmittel für die internen Märkte. Der Viehexport läuft meist auf dem Landweg nach Kenia beziehungsweise aus Somaliland nach Jemen und Saudi-Arabien. Dass die Viehpreise dieses Jahr aufgrund von Dürre und nachfolgender schlechter Tierqualität dramatisch gesunken sind, gilt als Hauptgrund für die aktuelle Hungersnot, weil dadurch den Landbevölkerungen die Einnahmen wegbrechen.
Somalias Händler arbeiten meist pragmatisch mit allen Seiten. Dadurch haben sie auch ein Interesse an einem effizienten Bankensektor und funktionierenden Kommunikationsnetzwerken. Das zeugt von lebendigen Selbstheilungskräften.
Außenstehende gehen meist davon aus, Somalia sei noch eine traditionelle Clangesellschaft, in der die Macht bei den Ältesten liegt und die man nur durch eine Entwicklungsdiktatur ruhig halten kann. Aus diesem Bild zog Siad Barre seine Legitimität. Politische Macht ist dabei gleichbedeutend mit dem Monopol über Außenbeziehungen und die damit einhergehenden Devisen und Auslandsgelder. Doch hat sich dies seit dem Verschwinden des Staates verschoben. Maßgeblich in Somalia heute ist die Kontrolle des Außenhandels, unabhängig von der politischen Macht. Deswegen funktioniert die heutige Regierung Sharifs nicht. Die Somalis brauchen den Wettstreit zwischen mehreren politischen Machtzentren, damit nicht eines alles zermalmt.
Wer in Mogadischu den Flughafen beherrscht, kann zwar internationale Gäste empfangen und sich als Staatsmann aufspielen. Aber wer die Häfen Mogadischu, Kismayo, Bosasso und Berbera beherrscht, kontrolliert das Geld. Wenn etwas seit Jahren Bestand in Somalia hat, dann dass diese vier Häfen in verschiedenen Händen liegen: Berbera in der Republik Somaliland, Bosasso im 1999 ebenfalls abgespaltenen Puntland, Kismayo in den Händen südlicher Milizen - heute der Shabaab - und Mogadischu unter Kontrolle der angeblichen Regierung.
Solange das so bleibt und die Akteure pragmatisch zusammenarbeiten, gibt es Hoffnung. Doch wenn die Weltgemeinschaft die Teilsomalias in Gut und Böse sortiert und in den Krieg gegeneinander hetzt, kann es keinen Ausweg geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter