Hundert Jahre Odenwaldschule: Verteilsystem für hübsche Knaben
Bereits unter den Gründungsvätern der Odenwaldschule – Paul Geheeb und Gustav Wyneken – herrschte sexuelle Gier, organisatorisches Chaos und Kameradschaft als Falle.
Sie wollten im Odenwald Geburtstag feiern. Sie wollten diese revolutionäre Schule hochleben lassen. Sie hatten alles Mögliche vorbereitet. Doch dann musste die Feier abgesagt werden wegen eines schrecklichen Anlasses. Die Odenwaldschule Oberhambach versank in Tränen.
Wir schreiben nicht das Jahr 2010. Und es geht nicht um die 100-Jahr-Feier der Odenwaldschule, die ab dem heutigen Mittwoch in gebotener Würde stattfinden wird. (siehe Kasten)
Nein, wir schreiben das Jahr 1920. Die 10-Jahr-Feier musste damals ausfallen, weil der spektakuläre Selbstmord einer Mitarbeiterin zu beklagen ist. Lily Schäfer, vierfache Mutter, nimmt sich das Leben - wegen einer Sexaffäre mit dem Gründer der Odenwaldschule, Paul Geheeb, einem der prägenden deutschen Reformpädagogen.
An fünf Tagen werden ehemalige und heutige Schüler ab dem heutigen Mittwoch die Chancen und Risiken der Odenwaldschule Oberhambach diskutieren. Es beginnt mit einem Zukunftsforum für Schüler und geht mit zwei eher allgemeinen Podien über Missbrauch und Reformpädagogik am Donnerstag weiter, an denen Christine Bergmann teilnehmen wird, die unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Die wichtigste Veranstaltung wird am Freitag ein Wahrheitsforum werden. Dort sind Betroffene eingeladen, Betrogene und auch Täter, allerdings rechnet niemand damit, dass Letztere kommen werden. Es gibt keinen festen Ablauf für dieses Forum. Angesehene Juristen und Psychologen werden anwesend sein. Ziel ist es, an der Schule selbst mit dem Gespräch darüber zu beginnen, was an der OSO wirklich geschah.
Die Zeiten waren ganz andere damals, auch die Personen. Und dennoch reibt man sich die Augen ob der Parallelen zwischen dem Fall Odenwaldschule 1920 und dem 2010. Sex, Crime and very important persons - und die Gurus. Es gibt frappierende Analogien zwischen Paul Geheeb - und jenem Schulleiter Gerold Becker, der in den 1970er und 80er Jahren die Verwahrlosung der Schule und den vielfachen Missbrauch zu verantworten hat.
Die quälende Frage für die pädagogische Gemeinde lautet also: Ist im Odenwald Erziehung zur Mündigkeit zu Hause - oder Übergriffigkeit und sexuelle Ausbeutung? Dieses Paradox trifft auch das Jubiläum. Schon vor zwei Jahren begannen die Planungen - doch dann kam im März dieses Jahres der große Knall. Diesmal war es nicht ein mutiger wie dezenter Brief von zwei Betroffenen des Missbrauchs, sondern ein ganze Kette von Veröffentlichungen.
Es kommt heraus, dass es nicht um gemeinsames Duschen mit dem Schulleiter geht, sondern um sexualisierte Gewalt in allen Formen: Kuschelsex eines Lehrers mit dem Spitznamen Frosch, Missbrauch bis hin zu brutaler Vergewaltigung von Kindern durch den Schulleiter, permanente Grenzüberschreitungen zwischen Lehrern und Schülern.
"Es ist versäumt worden, dem Missbrauch an unserer Schule wirklich auf den Grund zu gehen", sagt Johannes von Dohnanyi heute. Er ist der Sprecher des Vorstands der Odenwaldschule und weist damit auf die Mängel der ersten misslungenen Aufarbeitung des Missbrauchs 1999. Zum 100-jährigen soll das anders sein. "Es geht darum herauszufinden, welche Strukturen an der Odenwaldschule entstanden sind, die Missbrauch möglich gemacht haben. Und wir wollen auch verstehen, wie Menschen an einer Schule, die doch Widerspruchsgeist förderte, ihre Zivilcourage einbüßen konnten." Dazu wird es ab Donnerstag Foren geben, die Missbrauch thematisieren - und Reformpädagogik, für die die Odenwaldschule ja eigentlich stehen wollte.
Wer die Odenwaldschule verstehen will, muss ganz vorn beginnen, bei ihren Gründungsvätern. Da ist zunächst Paul Geheeb: Er gründet 1910 die Odenwaldschule und später eine Schule, die keinen geringeren Titel trägt als: Schule der Menschheit. Geheeb wird verehrt, verkehrt teilweise in den höchsten Kreisen. Weltoffene Juden schicken ihre Kinder in das Internat, Thomas Mann seinen Sohn Klaus. Bis nach Indien reicht der Ruhm Geheebs. Und er setzt tatsächlich Impulse für das Verständnis von Schule heute. Der wichtigste: Das Kind ist Subjekt und Autor seines Lernprozesses. Wörtlich sagt Geheeb einmal: Nicht die Erwachsenen, sondern sie, die Kinder, sind die Erbauer der neuen Schule.
Diese neue Schule ist die Odenwaldschule. Sie ist das innovativste unter den Landerziehungsheimen. Im Odenwald wird die Moderne des neuen Lernens eingeläutet. Das Kind wird als kreative Person begriffen und ernst genommen - auch heute das Ideal der besten Schulen.
Paul Geheeb, geboren 1870 in Geisa (Rhön), Studium der Theologie in Berlin und Jena, gehört zum Kreis der entschiedenen Schulreformer um Hermann Lietz und Gustav Wyneken. Nach der Jahrhundertwende setzen sie den staatlich wilhelminischen Paukanstalten eine andere Schule entgegen. Der examinierte Oberlehrer Geheeb mag nicht warten, ehe es dem Staat einfällt, seine Pädagogik am Kinde auszurichten. Er tut es selbst.
Geheeb ist also ein Macher - aber er ist ebenso ein spirituell angehauchter Erzieher. Geheeb lässt sich von der Jugendbewegung inspirieren. Er frönt selbst dem Lichtgebet, sprich: Er stellt sich nackt auf einen Felsen und blickt gen Himmel. Die ersten Schüler, die ihm geschickt werden, lässt er auf einer Waldlichtung hinter einem Bretterzaun täglich ein Luftbad nehmen - nackt.
Aber Geheeb ist eben auch ein Gründer. Genauer sind es Mäzene, die ihm helfen. Denn der Guru der Beziehung ist wahrhaftig kein guter Organisator. Das Geld für den Ausbau und den Betrieb der Odenwaldschule, die lange Jahre auch architektonisch als Vorzeigeanstalt gilt, stammt von Geheebs Schwiegervater Max Cassirer. Den Betrieb der Odenwaldschule steuert Geheebs Frau Edith Cassirer. Sie hält den Laden zusammen - und verzweifelt beinahe am Chaos ihres Mannes.
An der Odenwaldschule wird erstmals Koedukation gelebt, eine Ungeheuerlichkeit für die damalige Zeit. Man will die Geschlechter nicht mehr getrennt unterrichten. Mädchen und Jungen wohnen in gemischten Internatsfamilien zusammen. Der Umgang mit dem Geschlecht soll eben ein anderer sein, der gesellschaftliche Fortschritt will im Odenwald zu Hause sein. Wie Paul Geheeb selbst mit Frauen umspringt, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
Denn der verheiratete Mann praktiziert das gesellschaftliche Experiment der sexuellen Befreiung - und zwar 50 Jahre bevor sie in Deutschland beginnt. Insofern ist Geheeb Avantgarde. Eine Vorhut allerdings, die für seine Geliebten teilweise brutale Folgen hat. Edith Cassirer muss mit ansehen, wie Geheeb eine Affäre nach der anderen mit Mitarbeiterinnen hat, wie die Lehrer im Odenwald traditionell heißen. Es sind sexuelle und zugleich tiefsinnige Beziehungen - und sie kennen kaum Grenzen. Klaus Mann etwa beschreibt Geheeb als einen älteren Herrn, der sich schamlos an Schülerinnen heranmachte. "Die nahen Beziehungen Geheebs", sagt auch Geheebs Biograf Martin Näf, "hatten oft etwas, was wir heute als übergriffig bezeichnen würden."
Näf hält auch fest, dass der Mann, der aus heutiger Sicht wie ein Waldschrat aussieht, mit Knickerbockerhosen und Rauschebart, von diesen Beziehungen aufgefressen wird. Er zieht sich aus ihnen abrupt zurück, wenn sie ihn überfordern. Es bleiben Verlassene zurück wie eben Lily Schäfer, die Schwester von Max Weber. Wenige Tage vor der 10-Jahr-Feier fährt sie nach Heidelberg - und nimmt sich das Leben.
Aber Tragik ist nicht die einzige Parallele, die es zwischen dem Odenwald damals und in den 1970ern zu beobachten gibt. Es kommen Strukturen hinzu, die noch heute verteidigt werden, obwohl in ihnen nicht nur Freundschaft zu Hause ist. Gemeint sind die Internatsfamilien. Vielen Oberhambacher Altschülern gelten sie als die wichtigste Institution der OSO, als sicherer Hafen. "Ohne die Familien ist die Schule nicht denkbar", sagen sie - wiewohl sie wissen, dass die Familie auch wie eine Falle wirken konnte. Die Familie der Odenwaldschule entspringt der "Kameradschaft", wie sie Gustav Wyneken, der Weggefährte Geheebs, an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf erfand.
Die Kameradschaft ist eine Gruppe von Schülern, die im Internat zusammenwohnt, geführt vom Kameradschaftsführer, gewöhnlich einem Lehrer. Sie ist die Basiseinheit des Lebens neben dem Unterricht und eine Art Ersatzfamilie. "Die Kameradschaften sind die Zellen, aus denen sich der Organismus der Schulgemeinde aufbaut", heißt es in der Selbstdarstellung der Wickersdorfer Schulgemeinde. Im Odenwald hatte die Familie zeitweise einen ähnlich hohen Rang. Die Odenwaldschule, das sei nicht eine Schule, sondern viele Familien, hieß das Motto der OSO-Schulleitungen bis an die 2000er Jahre heran.
Aber die Kameradschaft ist unter Wyneken zugleich der zentrale Ort des pädagogischen Eros. Das ist eine sehr spezielle Form von höherer Erkenntnis. Der Mann sehe den Knaben "so schön und adlig, wie seine Liebe ihn sich träumt. Diesem Eros des Mannes kommt aber eine Sehnsucht des Knaben entgegen", schreibt Wyneken. Es gehe um "die wunderbare Vertiefung des Gefühlslebens und der Empfänglichkeit. Es ist kein Glück für einen Jungen, wenn diese große Spannung sofort auf das Weib als einzigen Gegenstand seiner Liebe zielt". Wyneken schrieb dies übrigens als Verteidigungsschrift, um sich gegen den Vorwurf der Pädophilie zu wehren.
Der Ort, wo man dieses Gefühl am besten leben kann, ist die Kameradschaft. Sie kann sehr profane Züge annehmen. Die pädagogischen Gründer Geheeb und Wyneken haben zwar hohe Ideale, aber sie streiten sich um die Mitglieder ihrer Familien wie die Kesselflicker. Die Geschichte der frühen Landerziehungsheime ist denn auch eine um den regelrechten Handel mit Schülern. Muss es daher eine vollkommen aus der Luft gegriffene These sein, dass es im Odenwald in den 70- und 80ern eine Art Verteilsystem für hübsche, schwache Knaben gegeben haben könnte, wie Betroffene vermuten?
Franziska Timm erkennt hinter der Idee, Erziehung zu erotisieren, "eine die eigene Willkür legitimierende Pädagogik" und eine "geschickt getarnte Jugendverführung". Es könnte sein, dass dies die Begriffe sind, die auch die OSO selbst für ihre jahrelange Erziehungspraxis findet. Zum ersten Mal. Nach 100 Jahren.
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