Hudson Yards in New York: Fata Morgana für Reiche

Die Hudson Yards im Stadtteil Manhattan sind ein geschlossener Kosmos – und ein himmelstürmendes Symbol gesellschaftlicher Ungleichheit.

Blick von Hochhaus auf Manhatten

Besucher auf New York's Hudson Yards mit Blick auf den Hudson-River Foto: Mark Lennihan/AP

Ein launischer Wind zieht durch Manhattan, doch in den Hudson Yards wütet ein Sturm – kaum tritt man aus der erst vier Jahre alten, aber schon glanzlosen U-Bahn-Station an der 34. Straße und zehnten Avenue in das nur teilweise vollendete Viertel im fernen Westen der Insel, jagen die Böen um die Ecken und zerren an den Kleidern: die Handvoll nagelneuer Hochhäuser, die schroff wie Splitter in den Himmel ragen, kreieren ihr eigenes, unwirsches Mikroklima. Zerzaust sucht man im nächsten Foyer Zuflucht – und taucht in die entrückte Dämmerung von 30 Hudson Yards, dem nun zweithöchsten Turm der Stadt. Mit seinen neunzig Stockwerken überragt der blaue Glaskoloss das nahe Empire State Building – die Antenne nicht mitgerechnet – um stolze sechs Meter.

Im Vestibül sitzt eine junge Dame allein hinter einem monumentalen Pult, das ihr die ominöse Macht eines Türhüters bei Kafka zu verleihen scheint. Jeder Schritt über die uferlose weiße Marmorfläche misst die mächtige Verschwendungswut, die so viel Leere auf dem nun kostspieligsten Boden von ganz New York bedeutet. Warner Bro­thers, HBO und CNN zählen zu den bereits eingezogenen oder zukünftigen Bewohnern an der neuen Nobeladresse.

Am anderen Ende der Empfangshalle gleiten hinter Glas Menschen auf Rolltreppen durch eine blendende Warenwelt: 30 Hudson Yards und die Nummer 10 – ein zweites Hochhaus derselben renommierten Firma KPF – flankieren „wie Tanzpartner“, so die Architekten, ein siebenetagiges Einkaufszentrum mit hundert Läden und 25 Lokalen.

Von beiden Wolkenkratzern gibt es direkten Zugang zu dem ebenfalls von Kohn Pederson Fox gebauten Hochglanzemporium, und das Konzept der „Stadt in der Stadt“, wie Makler diese insulare Nachbarschaft anpreisen, leuchtet unmittelbar ein: auf die zugige Piazza, wo blaue Stiefmütterchen im Schatten der hochmütigen Bauten zittern und die nahen Pressluftbohrer und Betonsägen den üblichen New Yorker Straßenlärm ersetzen, muss man vorerst nicht mehr hinaus – es gibt Restaurants und Cafés und Bars.

Gewinnbringendes Pepetuum Mobile

Die Hudson Yards sind als geschlossener Kosmos konzipiert, der alle Bedürfnisse in unmittelbarer Nähe erfüllt – ein gewinnbringendes Perpetuum Mobile, angetrieben von Arbeit, Erholung und Konsum. Schaulustige aus anderen Teilen der Stadt, die sich vom größten und mit 25 Milliarden Dollar teuersten Mischgebiet in der Geschichte der USA ein Erlebnis versprechen, sollen im Parterre in den Bann charismatischer Objekte geraten.

Hier haben sich Dior, Piaget, Rolex, Coach und der Rest der Luxus-Gang versammelt, und prompt schleicht sich dieses leicht gelangweilte Flughafengefühl heran – der vertraute Schwebezustand in der hermetischen Zauberwelt unerschwinglicher Dinge.

Treppenhaus

Das wabenartige Treppenhaus der Hudson Yards Foto: Stefan Falke

In den mittleren Stockwerken haben auch publikumsfreundlichere Firmen wie Zara und der texanische Gigant Forty Five Ten ihre sogenannten Concept Stores für eine jüngere Klientel aufgeschlagen – sie sind beinah ebenso ausgestorben wie die exklusiven Läden zu ebener Erde. Die obersten drei Stockwerke regiert das in Dallas heimische Edelkaufhaus Neiman Marcus – ein riskantes Manöver in einer Fußgängerstadt, die von jeher eine Abneigung gegen den vertikalen Einzelhandel hegte und immer stolz auf ihre individuellen Läden und Boutiquen entlang vitaler Straßen und Avenuen war.

Mit sorgfältig kuratierten Designgalerien, Originaldrucken von Roy Lichtenstein und David Hockney, einer liebevoll gestalteten Wand mit Schwarz-Weiß-Bildern des Modefotografen Bill Cunningham und einem Angebot, das von 1.200-Dollar-Sneakers bis zur Couture in fünfstelligen Gefilden reicht, bietet das 112 Jahre alte Unternehmen seine gesamten Verführungskünste auf.

Die Idee einer Einkaufszitadelle

Gleich am Eingang lockt ein funkelndes Nachtpanorama der New Yorker Skyline, vor der ein gelbes Taxi – ein längst nostalgisches, vom Aussterben bedrohtes Transportmittel – parkt. Schaufenster-Voyeure streunen herein und porträtieren einander vor der fotogenen Kulisse – dann streunen sie wieder hinaus.

Die Gattung Shopping Mall betrachtendie Ökonomen als Fossil

Ein paar Schritte weiter wandelt man dann durch verwaiste Paradiese, wo hochelegante Verkäuferinnen vergeblich gegen die über allem hängende Melancholie anlächeln. Ohne Zweifel wissen sie, dass erst in den letzten Monaten das alteingesessene Kaufhaus Lord & Taylor sowie ein erst kürzlich eröffneter Ableger von Saks Fifth Avenue im Finanzviertel schließen mussten.

Die Idee einer Einkaufszitadelle von hunderttausend Quadratmetern stammt aus der glas- und steinzeitlichen, also voramazonischen Epoche um die Jahrtausendwende. Inzwischen hat New York selbst in Soho und an der Madison Avenue eine kommerzielle Leerstandsrate von zwanzig Prozent, und insbesondere die Gattung Shopping Mall betrachten die Ökonomen als Fossil. Zugleich hat New York aber auch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und die Bequemlichkeiten des vorstädtischen Lebensstils importiert: behäbige Autos, ausladende Apartments und vor allem Big-Box-Ladenketten mit ubiquitärem Sortiment infiltrieren die City mit einer uniformen Bürgerlichkeit.

Der Architekturkritiker der New York Times nannte die Hudson Yards einen „aufgepumpten Büropark aus Suburbia“. Tatsächlich hatten die Bauherren der Firmen Related Companies und Oxford Properties Group genau das im Sinn: „New York, wie es sein soll.“ Das nächste Vorhaben von Related ist „eine Straßenszene im Silicon Valley“.

Vom typischen amerikanischen Vorort unterscheidet sich die neue Nachbarschaft allerdings schon allein durch die Höhe der Gebäude, die Anzahl der an dem vor Ehrgeiz starrenden Projekt beteiligten „Stararchitekten“ – und die vielen Touristen, die auf der introvertierten Shopping-Meile mit spielerischen Wandinstallationen zu Selfies eingeladen werden: am populärsten sind mit Kunsthaar bedeckte Tafeln, die man kämmen und streicheln darf – offenbar entfacht das anonyme Umfeld mit seinen kalten, glatten Oberflächen Sehnsucht nach taktilem Trost: nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene harken andächtig durch den rosa und türkisen Flausch. Ebenfalls zugkräftig ist der Salon der Starfriseuse Sally Hershberger, wo ein Schnitt 800 Dollar kostet: die Finanzkapriolen des einen Prozent fungieren als Sehenswürdigkeiten.

Blick auf die Hudson Yards

Blick auf die Hudson Yards Foto: Stefan Falke

In ihrem groß an die Wand geschlagenen Kredo behaupten die Veranstalter der Fashion Week, deren Schauen zukünftig in den Hudson Yards stattfinden werden, dass „Inklusivität nie aus der Mode kommt“. Doch das in acht Jahren aufgetürmte Viertel ist nichts anderes als eine himmelschreiende Manifestierung gesellschaftlicher Ungleichheit.

Die Stadt hat ihr Mandat, dem gesamten Spektrum ihrer Bevölkerung ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, einer Fata Morgana für Milliardäre geopfert. Die wenigsten Architekturfirmen können heute ein Wohnungsbauportfolio vorweisen, und die attraktivsten Exemplare alter Bausubstanz für die weniger Wohlhabenden werden heimlich an die Mittelklasse verhökert. Stadtplanung im Sinne funktionaler Nachbarschaften für gemischte Einkommensgruppen gibt es nicht mehr, für das Prekariat werden Zellen von zwanzig Quadratmetern erdacht.

Steuergelder für das Luxusobjekt

Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung bedürfte es des Bruttosozialproduktes von Bahrain, um die Wohnungsnot für die 99 Prozent zu beheben. Stattdessen bezuschusste die Stadt die Eroberung des letzten unbebauten Freiraums in Manhattan mit Steuergeldern in Höhe von sieben Milliarden Dollar. Zur Rechtfertigung dieser „Sozialhilfe für Milliardäre“ bedurfte es der Bereitstellung ganzer vierhundert preisgünstiger Wohnungen, deren Mieter jedoch einen separaten Eingang benutzen müssen.

Dieser Realität wird man sich im ersten Hotel des Fitness-Giganten Equinox hinter schalldichten Wänden und Verdunklungsjalousien wie für einen Luftangriff mühelos verschließen können. Der ab Juni zwischen der 24. und 32. Etage von 35 Hudson Yard angesiedelte Körperkulttempel offeriert seinen verwöhnten Gästen Bäder mit drei „Regenwaldduschköpfen“, einen Außenpool mit Blick auf den Fluss, „adaptogene Superlattes“ und „high-intensity Martinis“ sowie eine Krankenschwester, die intravenöse Hangover-Helpers verabreicht. Die Preisskala beginnt bei $ 700.

Als Antidot zu den omnipräsenten Rolltreppen und Aufzügen ihrer vertikalen Halluzination haben die Masterplaner den Wettbewerbsbeitrag des britischen Designers Thomas Heatherwick zur Unterhaltung der Touristen auserkoren. Am Fuße seines riesigen, sich nach oben erweiterten Korbes aus wabenförmig angeordneten Treppen stehen Leute Schlange, um sich klopfenden Herzens aus der Trance des Kaufhausbesuchs wachzurütteln – mit ihrem Auf und Ab von 2.500 Stufen ist die sogenannte interaktive Skulptur das zwingende Gegenstück zu all den Rolltreppen und Aufzügen.

Zugleich hält die auf Hochglanz polierte Kupferverkleidung der angeblich von indischen Stufenbrunnen inspirierten Konstruktion der Nachbarschaft einen Zerrspiegel von unzähligen Facetten vor – ein für Instagram geschaffenes Schaustück. Um die Erwartung zu steigern, wurde diese 200-Millionen-Dollar-Kirmes­attraktion unter strikter Geheimhaltung hinter einem hohen Bauzaun errichtet.

Wenn man atemlos auf dem obersten Rand der Vessel ankommt, eröffnet sich ein großartiger Blick auf den Hudson, aber auch auf das Zugdepot, das die städtische Transportation Authority Anfang der 80er Jahre an diesem brachliegenden Ort etablierte. Dank des funktionalen Betriebshofs blieb die Gegend lange vor der Erschließung von Immobilienspekulanten verschont, doch waren sich die für das Transitprojekt Verantwortlichen schon damals der wertvollen Luftrechte bewusst und legten die Schienen mit genügend Abstand, um Pfeiler für eine Plattform zu errichten. Eine Milliarde verschlang das Fundament, auf dem nun sechs Wolkenkratzer stehen. In der zweiten Phase des Mammutprojekts, das 2026 abgeschlossen sein soll, verschwindet auch der westliche Teil des Depots unter dem Deck und wird mit weiteren Türmen bebaut.

Damit ist dann auch die schöne Aussicht zugestellt, allerdings mit einer Kollektion erlesener Kreationen von Frank Gehry, Herzog & de Meuron und Santiago Calatrava, die sich den bereits ganz oder fast fertigen Bauwerken von SOM, KPF und Norman Foster hinzugesellen – schimmernde Glasfigurinen von monumentalen Dimensionen. Im Unterschied zur vierzig Jahre älteren Battery Park City, deren Planer das Viertel am Südwestende Manhattans an das Straßenraster anschlossen, oder zum Rockefeller Center, das sich in den 30er Jahren als homogene Komposition in die Stadtlandschaft von Midtown integrierte, besteht in den Hudson Yards jeder einzelne Turm auf seiner Einzigartigkeit, als handele es sich um ein Architekturmuseum.

Kulturzentrum inclusive

Die noch unfertige dreieckige Aussichtsplattform – genannt „The Edge“ – ragt wie das Segel eines gekenterten Bootes aus der Fassade von 30 Hudson Yards und kehrt dem neuen Quartier den Rücken zu: Die Schöpfer des gefährlich anmutenden Balkons bevorzugen das schwindelerweckende Panorama des alten, legendären, geliebten Steindschungels von New York, auf Augenhöhe mit dem Empire State Building. Vermutlich wird keines der neuen Gebäude je dessen ikonischen Status erreichen.

Ohne ein anspruchsvolles Kulturzentrum wäre der Hudson-Yards-Komplex als Wohn-, Arbeits- und Life-Style-Maschine natürlich unvollständig, und so wurde das hochkarätige Architektenteam Diller Scofidio + Renfro, das seinen Ruhm nicht zuletzt dem Entwurf für die populäre High Line verdankt, zur Erschaffung eines den restlichen Bauobjekten ebenbürtigen Unikats angeheuert: im Einklang mit der unterirdischen Dynamik eines aktiven Zugdepots und wohl auch im Geiste der selbstbewusst rastlosen City, konzipierte das Avantgardeteam ein multifunktionales Zentrum, das sich bei Bedarf – zum Beispiel bei einem Konzert von Björk – wie ein riesiger Waggon ausfahren lässt.

Bei geringerem Andrang zieht sich der von einer leichten, silbrigen Polymerhaut wie von einem gesteppten Plumeau zugedeckte Bau zur Hälfte in sein Ankerhochhaus zurück. Unter der Leitung des Kulturveteranen Alex Pooth sind im „Shed“ nicht nur Künstler wie Gerhard Richter und Musiker wie Steve Reich zu sehen und zu hören, sondern das ambitionierte Programm holt auch Jugendliche aus New Yorks vernachlässigten Nachbarschaften in den mit Steuergeldern von 500 Millionen Dollar subventionierten „Schuppen“. Dort haben sie Gelegenheit, virtuose neue Kunstformen wie „Flex“ – eine an die Verrenkungskünste von Houdini und an Yogis erinnernde Tanzpraxis aus Brooklyn – vorzuführen. Oder eine Kung-Fu-Oper über chinesische Immigranten an der anderen Endstation der Nr. 7 U-Bahn-Linie in Queens.

Doch eigentlich bewegen sich die jungen, großartigen Talente hier auf Feindesland: in den Hudson Yards wurden achtstellige Summen in Glamour investiert, die zumindest teilweise ihren verkommenen Vierteln zustehen.

Im Oktober wird The Shed der 88-jährigen Künstlerin, Philosophin, Wissenschaftlerin und Ökologin Agnes Denes eine Ausstellung widmen. Im Mai 1982 pflanzte die gebürtige Ungarin ein Weizenfeld auf dem Neuland, das Manhattan aus den Ausschachtungen für die Fundamente des World Trade Centers zu dessen Füßen hinzugefügt worden war und wo bald darauf die Battery City entstehen sollte. Doch bis zur Ernte im August desselben Jahres schenkte Denes der Stadt ein wildes, subversives, unvergessliches Bild.

Die Erbauer der Hudson Yards behaupten, dass mit ihrer Kolonisierung des letzten unbebauten Territoriums von Manhattan nichts als ein Niemandsland verlorengegangen sei. Denes erinnert daran, dass die Imagination des Unwahrscheinlichen der Wirklichkeit aus Glas und Stein weit überlegen sein kann.

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