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Homoerotische Stasi

■ Die erste Ost-Homo-Zeitung 'andere Welt‘ las gleichgeschlechtliche Stasi-Spitzel-Prosa

Die andere Welt‘, erste Lesben- und Schwulenzeitung der DDR, ist zwar ein publizistisches Wende-, leider aber kein Wunderkind. Derzeit tingeln die RedakteurInnen mit Lesungen durchs Land, um auf die Existenzgefährdung der im März 1990 gegründeten Zeitung aufmerksam zu machen. Auf Separatismus legt man keinen Wert: nicht nur, daß in der Redaktion der Zeitung, die nicht nur Homos adressiert, auch heterosexuelle Sympathisantinnen mitwirken dürfen — auch die Zusammensetzung des Publikums während der Lesung im Frauenzentrum Frieda kündet von dieser Tatsache.

Die Zeitung hat die Form der »kleinen Kurzgeschichte« wieder kultiviert. In diesem Sinne werden weitgehend ichbezogene Texte gelesen, denen die Entstehungszeit DDR oder Post-DDR sowie homo- oder heterosexuelle AutorInnenschaft meist nicht anzumerken sind. Wichtiger als explizit homoerotische Themen scheint die Tendenz der neuen Innerlichkeit zu sein. Erzählt wird viel Privates im Kontrast mit den Nöten des neudeutschen Alltags, doch den Formulierungen fehlt jede Schärfe und Aggression. Die Turbulenzen der sich überschlagenden Außenwelt werden kompensiert durch einen sehr verinnerlichten Schreibstil: keine Kampfansage an den schnöden, vom westdeutschen Kapitalismus diktierten Lebensstil, der rasant und rücksichtslos viele überrollt. Wenn in einem Nebensatz einmal ein Seitenhieb gegen Kanzler und Regierungspartei abgegeben wird, geschieht es dezent und moderat, als fehlte der Mut, lauthals loszuwettern und den Frust von der Seele zu schreiben. Ist dies die neue Verunsicherung angesichts der allseits grassierenden Krankheit »Stasi-Akte«?

Doch darum geht es in den Texten erst gar nicht, die Gauck-Behörde scheint in ihren Ermittlungen zu der Gruppe gleichgeschlechtlich-liebender Stasi-Spitzel noch nicht vorgedrungen zu sein. Die jahrzehntelange unterdrückerische Erziehung der DDR-Bürger hat sich in den Texten manifestiert. Mit Sicherheit ändern sich Staatsformen schneller als das rhetorische Verhalten der Staatsbewohner. So nimmt die Lesung immer mehr das Ambiente eines Besinnungsabends an; in Intervallen werden 20 Minuten Text, 20 Minuten sanfte Gitarrenmusik verabreicht.

Bis endlich die 51jährige arbeitslose Journalistin Renate die textliche Wende des Abends herbeiführt. Eloquent und selbstironisch verquickt sie Berufserfahrungen und Alltagssorgen mit Anekdoten aus der Beziehung zur 20 Jahre jüngeren Julia. Im Grunde sind die Texte eine einzige Liebeserklärung.

Zuletzt beschreibt Renate ihre Suche nach zwei Landlesben in der Nähe von Gera. Sie karikiert Irrungen, Wirrungen und Hindernisse einer lesbischen Metropolenbewohnerin in der heterosexuellen Provinz — für die Serie »Lesben und Schwule auf dem Lande« wird sie nie mehr verreisen. Andrea Winter

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