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Hoffnungen und Ängste in der WirtschaftDie Macht der Erwartung

Ulrike Herrmann
Kommentar von Ulrike Herrmann

Jede Investition ist eine Wette auf die Zukunft. Und die ist nicht beherrschbar, so sehr die Menschen auch danach streben. Ein Essay.

Angebot und Nachfrage für Öl sind unverändert, nur der Preis geht in den Keller. Bild: dpa

D ie Wirtschaft gilt als eine Welt, in der die Zahlen regieren. Das ist falsch. Die Ökonomie wird vor allem durch Erwartungen gesteuert. Hoffnungen und Ängste sind so real wie die Realität – ja sie sind die Wirklichkeit. Die Gegenwart wird von einer imaginierten Zukunft geprägt.

Das Prinzip Hoffnung leitet jeden Unternehmer, der in ein Produkt investiert. Er kann nicht sicher wissen, ob seine Waren Kunden finden. Selbst akribische Marktstudien schützen nicht vor Flops, weswegen jede Investition eine Wette auf die Zukunft ist.

Auch Geld funktioniert nur, solange die Menschen hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Denn wer Geld akzeptiert, nimmt an, dass es seinen Wert behält. Aus Zeiten der Hyperinflation weiß man, was passiert, wenn dem Geld nicht mehr vertraut wird: Es hört auf zu zirkulieren, die Waren werden gehortet und nur noch gegen andere Waren getauscht. Die Wirtschaft stockt – bis es zu einer Geldreform kommt und das Prinzip Hoffnung wieder funktioniert.

Wo Hoffnung ist, sind Ängste, denn die Zukunft ist nicht beherrschbar. Daher haben die Menschen bereits in der Antike ein Instrument erfunden, das die Zukunft zur Gegenwart macht: das Derivat. Es wird vor allem bei Zinsen, Währungen, Rohstoffen und Agrarprodukten eingesetzt, weil dort die Kurse besonders stark schwanken. Das Prinzip ist einfach: Käufer und Verkäufer legen heute fest, welcher Preis künftig gelten soll, zum Beispiel in drei Monaten. Das Unkalkulierbare wird kalkulierbar.

Bauern können den Getreidepreis schon vor der Ernte festlegen, Fluggesellschaften sich einen festen Ölpreis sichern, Unternehmen ihre Kredite gegen Zinsrisiken schützen.

Aber Derivate sind tückisch: Mit diesen Wetten lässt sich auch reine Spekulation betreiben, ohne dass Grundgeschäfte wie eine Ernte oder Ölimporte existieren. Die Macht der Hoffnung und der Angst ist dann grenzenlos. Denn das Herdenverhalten der Anleger sorgt dafür, dass es sich lohnt, mit der Herde mitzutrampeln – auch wenn die Herde in die falsche Richtung läuft.

Dieser Wahnsinn ist beim Ölpreis zu besichtigen. An den „Fundamentaldaten“ hat sich wenig verändert, Angebot und Nachfrage sind weitgehend stabil. Trotzdem ist der Ölpreis in nur vier Monaten um 40 Prozent in die Tiefe gerauscht. Denn die Stimmung unter den Spekulanten hat sich gedreht: Mit Derivaten wetteten sie erst auf steigende Ölpreise – jetzt setzen sie auf sinkende Kurse.

Spur der Zerstörung

Obwohl nur mit Erwartungen gehandelt wird, hinterlassen die Spekulanten oft eine Spur der Zerstörung. Sie können Länder in den Abgrund treiben, wie etwa Italien jüngst erleben musste. Jahrzehntelang hat das Land seine Staatsschulden verlässlich bedient – trotzdem brach im Juli 2011 unter den Investoren die irrationale Panik aus, Italien könne in die Pleite rutschen.

Die Anleger zogen ihr Geld ab, sodass die Kreditzinsen für Italien in unbezahlbare Höhen schossen. Was die Investoren nur befürchtet hatten, wurde damit wahr: Italien steuerte in den Bankrott. Erwartungen erfüllten sich von selbst, und eine gefürchtete Zukunft wurde zur Gegenwart.

Die Eurozone wäre damals explodiert, wenn die Europäische Zentralbank nicht eingegriffen hätte – mit reiner Rhetorik. Am 26. Juli 2012 hielt EZB-Chef Mario Draghi eine Rede, an der nur ein einziger Satz wichtig war: Man werde tun, „was immer auch nötig ist, um den Euro zu retten“.

Psychologische Abwehrmaßnahme

Die Investoren verstanden sofort, was diese kurze Aussage meinte. Ab jetzt würde die Notenbank unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen, um die Zinsen für Italien zu senken. Die Panik verebbte sofort, sodass die EZB keine einzige Staatsanleihe erwerben musste. Psychologie hatte ausgereicht, um die Anleger zu beruhigen.

Dieses Spiel mit den Erwartungen wiederholt Draghi jetzt. Seit Monaten kündigt er an, dass er eine Billion Euro in die Banken pumpen will. Bisher ist von diesem Geld fast nichts zu sehen, aber das Ziel ist schon erreicht: Der Euro fiel, der Export der Krisenländer wird angekurbelt.

Neoliberale verstehen bis heute nicht, warum der Staat ständig in die Wirtschaft eingreift. Sie ignorieren, wie gefährlich es sein kann, dass sich Investoren immer von Hoffnungen und Ängsten leiten lassen. Sobald die Anleger in die Irre rennen, muss der Staat steuern – indem er gezielt neue Erwartungen schürt. Dem Prinzip Hoffnung entkommt keiner.

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Ulrike Herrmann
Wirtschaftsredakteurin
Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).
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6 Kommentare

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  • 7G
    774 (Profil gelöscht)

    Ein paarmal hat die EZB sich richtig in die Anleger hineinversetzen können. Doch war es Können oder Glück? Auf jeden Fall ein Drahtseilakt, der auf die Dauer wohl nicht durchzuhalten ist.

  • Wenn es eine ordentliche Planwirtschaft geben würde, in der auch nur das produziert wird, was benötigt wird, wäre es zum einen wesentlich ökologischer und zum anderen auch wesentlich gerechter.

  • Dem Artikel kann man in weiten Zügen nur zustimmen, aber die Ökonomen sind da oft anderer Meinung und vertreten dieses "Glaubensbekenntniss" mit aller MACHT! :-((

    .

    Der "Markt", das angebetete Wesen ist doch rein rational, regelt sich selbst, "muss man dem Markt überlassen" dann wird das schon was:-((

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    Der Artikel zeigt doch, auch das reale Verhalten im "Markt" beweist das, das handfeste Regeln "gegen" den Markt aufgestellt und durchgesetzt werden müssen.

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    Sonst sind Wertaufbewahrungsmittel wie Geld nicht weiter als bunte Zettel und wir kommen wieder zu einen Warentauschgesellschaft oder zur Edelmetalldeckung zurück.

    .

    Was in diesem Zusammenhang von Buchgeld usw. zu halten ist brauche ich wohl nicht mehr an zu sprechen.

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    Aber eher fliesst die Elbe rückwärts, oder Dresden wird zur "Flüchtlingsfreundlichesten Stadt Europas" als das o.a. in Berlin, London Paris..... und Brüssel wohl zur Leitlinie wird.

    .

    Meint

    Sikasuu

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @Sikasuu:

      Genau. Titel des Jahresgutachten der "Wirtschaftsweisen" - "Mehr Vertrauen in Marktprozesse" ;)

      • @10236 (Profil gelöscht):

        Danke!

        .

        Noch ein Nachsatz:

        Ökonomen meinen doch wenn sie sagen: "Überlassen wir das dem Mark!"

        .

        nicht anderes als übersetzt:

        "Überlasst die MACHT uns!"

        .

        Wir sind die allein selig machende Kirche:-))

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "Sobald die Anleger in die Irre rennen, muss der Staat steuern – indem er gezielt neue Erwartungen schürt."

     

    Und oft die Verluste der Anleger sozialisiert.