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Höllenfahrt der Erleuchtung

Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“ ist ein Schinken – aber ein ziemlich vertrackter!  ■ Von Brigitte Werneburg

Das Buch zum Film kam in Deutschland erstmals im September 1977 heraus. Im April 1978 folgte die zweite, im Mai die dritte, im Oktober die vierte Zweitausendeins-Auflage; die fünfte Auflage erschien im März 1979, die sechste schließlich im Dezember des gleichen Jahres – und dann gab es eine lange Pause. Siebzehn Jahre dauerte es, bis die siebte Auflage im Dezember 1996 erschien, gefolgt von der achten im Juni 1998. Denn nun, siebenundzwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen des Textes „im widerlichen Jahr unseres Herrn, 1971“, wie sein Autor, der „Desperate Southern Gentleman“ Hunter Stockton Thompson sagte, wurde der Film zum Buch endlich Wirklichkeit. Terry Gilliam, der das schwierige Projekt in Angriff nahm, kann also, wie die Promoter der Musikindustrie sagen würden, auf „eine treue Fangemeinde“ bauen. „Fear and Loathing in Las Vegas“, das zeigt allein die Chronologie der deutschen Ausgabe, ist Kult.

Es ist ein Buch, das aus den Tagen des Pop I stammt. So ließe sich entsprechend der allerneuesten Systematisierungsanstrengung über den Gegenstand Gegenkultur sagen. Doch der Film entstand in den Zeiten des Pop II. Zu spät? Die furchterregend akademische Unterscheidung jedenfalls fiel Spex-Herausgeber Diedrich Diederichsen ein, der nun nicht direkt Promoter der Musikindustrie, sondern nur der ihr unfreiwillig zugefallene Chefdenker in Sachen Pop und Politik ist. Doch sie sei hier genutzt. Einfach, weil sie in ihrer Vermessenheit, im Vermessen des Feldes, schon zeigt, daß seit der wilden „Reise in das Herz des amerikanischen Traumes“, wie der Doktor des Journalismus, Hunter S. Thompson, „Angst und Schrecken in Las Vegas“ untertitelte, Jahrhunderte vergangen sein müssen. Der Professor des Pop (Merz- Akademie, Stuttgart) doziert derweil über P I als den spezifischen und P II als den allgemeinen Pop. Kurz und gut, in dieser Situation kann Gilliams Film wohl wirklich nur noch eines sein – ein Kostümstück, ein Historienschinken.

Und das ist er auch. Allerdings ist er ein Historienschinken der vertrackteren Sorte. „Fear and Loathing“ ist ungeheuer amüsant und zugleich erschreckend zäh; das macht, daß der Film seine handelnden Personen, den Journalisten Raoul Duke (Johnny Depp) und seinen Anwalt Dr. Gonzo (Benicio Del Toro) hauptsächlich damit beschäftigt sieht, „zwei Beutel Gras, fünfundsiebzig Pillen Meskalin, fünf Löschblätter extrastarkes Acid, einen Salzstreuer voll Kokain, eine ganze Galaxie von Uppern, Downern, Heulern, Lachern sowie ein Flasche Tequila, eine Flasche Rum, einen Karton Budweiser, einen halben Liter unverdünnten Äther und zwei Dutzend Amylnitrat“ zu konsumieren. Der Film visualisiert ein endloses Drogenwochenende; freilich auch einen der luzidesten Drogentrips des 20. Jahrhunderts, eine Höllenfahrt der Erleuchtung; eine Art Choderlos de Laclossche „Gefährliche Liebschaften“ für die Jahre des Vietnamkrieges. Ist dem einen Sex die Waffe, ist es dem anderen die Säure. Schildert der eine Ende des 18. Jahrhunderts den Zynismus und die Dekadenz einer Gesellschaft vor der Revolution, zeigt der andere am Ende des 20. Jahrhunderts dies für eine Gesellschaft nach der Revolution. Das ergibt natürlich die hoffnungslosere Geschichte, freilich auch die komischere. Vor allem ergibt es eine politische Geschichte, die in der Erzählung von Raoul Duke so geht: „Und das, glaube ich, war der Haken – dieses Gefühl, der Sieg über die Kräfte des Alten und Bösen sei unausweichlich. [...] Hinter uns stand die Naturgewalt; wir ritten auf dem Kamm einer hohen und wunderschönen Welle. [...] Und jetzt, weniger als fünf Jahre später, kannst du auf einen steilen Hügel in Las Vegas klettern und nach Westen blicken, und wenn du die richtigen Augen hast, dann kannst du die Hochwassermarkierung fast sehen – die Stelle, wo sich die Welle schließlich brach und zurückrollte.“

Diese Erzählerstimme Raoul Dukes, die gleich zu Beginn des Films den Inhalt des Kofferraums des roten Hais preisgibt, des schnieken Chevrolet-Cabrios, mit dem Duke und Dr. Gonzo von Los Angeles nach Las Vegas unterwegs sind, um für Sports Illustrated über das Off-road-Motorradrennen Mint 400 zu berichten, signalisiert sofort, daß Terry Gilliam die Spur die Buchvorlage direkt aufnimmt und das Brennen der Lunte verfolgt – bis am Ende gar nichts explodiert. So ereignen sich die echten Katastrophen.

„Fear and Loathing“ ist eben ein Stück großer Journalismus, und Terry Gilliam hat klugerweise nicht versucht, es in der üblichen melodramatischen Kinogeschichte kleinzukriegen. Obwohl er keine Angst hatte, die Teppichmuster unter den Füßen der motorisch stark gehandicapten, weil drogenumnebelten Herren Duke und Gonzo in böse Schlingpflanzen mutieren oder die Horrorvisionen von Eidechsen-Hotelangestellten und Touristen-Krokodilen über die Leinwand marschieren zu lassen.

Johnny Depp, der dem realen Hunter S. Thompson von 1971 verblüffend ähnlich sieht, wie Benicio Del Toro, der sich für die Rolle des Politaktivisten und Chicano-Anwalts Oscar Zeta Acosta vierzig Pfund anfraß, torkeln denn auch mit bemerkenswerter Nonchalance durch dieses Bestiarium: paranoid, ebenso mordlüstern wie suizidal, unersättlich nach Drogen und voll bitterer Gier nach dem Anblick des amerikanischen Traums in Trümmern. Während dessen verschwindet das Motorradrennen, das Gilliam als sehr britischen Wüstenfuchs-Rommel- Joke inszeniert, in einer riesigen Staubwolke. Hotelzimmer werden verwüstet, Grapefruits mit dem Jagdmesser geschlachtet und Lucy (Christina Ricci) abgehängt. Die minderjährige Gespielin Dr. Gonzos, die ausschließlich Barbra- Streisand-Porträts malt, erscheint nicht weniger bedrohlich als der Besuch auf dem Dritten Bundeskongreß der Bezirksstaatsanwälte über Narkotika oder die Versuchung, für 99 Cent sein Gesicht auf einem riesigen Billboard über ganz Las Vegas projiziert zu sehen.

Als der 34jährige Hunter S. Thompson dieser Versuchung nicht erlag, machte sich übrigens ein 30jähriger Amerikaner zusammen mit fünf Engländern daran, alles aufs Korn zu nehmen, was den Briten heilig ist. „Monthy Pytons Flying Circus“ hieß das Unternehmen, in dem Terry Gilliam für die Comics verantwortlich war. Später wechselte er zur Regie, „Jabberwocky“ (1977), „Brazil“ (1985) und zuletzt „12 Monkeys“ (1995), dem der 29minütige Kurzfilm „La Jetée“ von Chris Marker aus dem Jahre 1962 zugrunde liegt, wurden gerühmt. Gilliam weiß genau, was den New Journalism Tom Wolfes und seine Abart, den Gonzo-Journalismus, ausmachte: „Dieses Ding hier verlangte Teilnahme“, wie Thompsons Alter ego Duke über den Drogenkongreß flucht. Wie nüchtern stand Gilliam auf dem Kamm der Woge, die so schön war?

Der Antwort auf diese Frage weicht er aus. Ja – um eine Zeile aus der Zeit Laclos' für heute umzuschreiben – ,wer wagte es auch noch, von der Süße des Lebens vor der Epoche der politischen Korrektheit zu berichten? Und wer würde das in Zeiten des allgemeinen Pop II überhaupt verstehen?

„Fear and Loathing in Las Vegas“. Regie: Terry Gilliam. Mit Johnny Depp, Benicio Del Toro, USA 1998, 128 Min.

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