Hochwasserkatastrophe in Henan: Zehntausende bauen Hilfsliste auf
Online finden Flutbetroffene in China Unterkünfte und Notfallnummern. Gleichzeitig werden kritische Nachrichten aus dem Netz gelöscht.
A ugenzeugen aus Zhengzhou schildern den Dienstagabend wie ein Erweckungserlebnis aus dem alten Testament: Der Himmel habe sich in ein gleißendes Weiß gehüllt, ehe apokalyptische Regenfälle auf die 10-Millionen-Metropole hereinbrachen. Wer die schiere Dimension der Naturkatastrophe aus Zentralchina begreifen möchte, sollte sich eine nüchterne Kennzahl der Meteorologen vor Augen führen: Zu Stoßzeiten sind pro Stunde 200 Millimeter Niederschlag auf die Stadt geprasselt – fast ein Drittel der gesamten Regenfälle eines durchschnittlichen Jahres.
Dementsprechend dominierten die Fluten in der zentralchinesischen Provinz Henan nicht nur die Nachrichten, sondern auch die Tischgespräche innerhalb der Volksrepublik – und die sozialen Medien. Doch für die Betroffenen aus der Region selbst diente die Kommunikation, aufgrund von flächendeckenden Stromausfällen zum Luxusgut geworden, nicht nur zum Meinungsaustausch, sondern war vielmehr ein hocheffizientes Werkzeug für den Überlebenskampf.
Denn die Technologie, gepaart mit einem unglaublichem Maß an Mobilisierung und Selbstorganisation vieler Chinesen, hat bei der Rettung vieler Menschenleben eine wichtige Rolle gespielt. Ein Student in Zhengzhou hat mit einem simplem „Tencent Dokument“, dem chinesischen Äquivalent zu Google Sheet, den Stein ins Rollen gebracht. In Windeseile bauten Zehntausende eine riesige, millionenfach aufgerufene Hilfsliste mit notwendigen Informationen aus: von Telefonnummern der Bergungsteams über die nächsten Schutzunterkünfte bis hin zu öffentlichen Stationen zum Laden von Smartphones.
Die bisher veröffentlichten Zahlen der Behörden sind dennoch ernüchternd. Sie sollten allerdings nur als vorläufige Schätzung einer weiter anhaltenden menschlichen Tragödie verstanden werden: 51 Tote, mindestens 200.000 Evakuierte und ein wirtschaftlicher Schaden von umgerechnet knapp achteinhalb Milliarden Euro.
Die Schattenseiten des totalitären Zensurapparats
Die Wassermassen haben nicht nur ganze Landstriche in reißende Flüsse verwandelt, sondern wieder einmal die Schattenseiten eines totalitären Zensurapparats hervorgebracht. Unzählige Internetnutzer wurden von den Behörden einfach aus dem Diskurs gelöscht. Wie etwa ein Anwohner aus Zhengzhou, der nach dem Fluten seines Bezirks wütend zum Smartphone griff: „Die Dämme sind gebrochen, die Stadt geflutet. Wir wollen die Wahrheit hören und nicht für Narren gehalten werden!“, schrieb er auf der Onlineplattform Wechat. Seine Aussage wurde zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Die Autoritäten haben das Posting kurzerhand entfernt.
Doch trotz der kontrollwütigen Zensoren ist das chinesische Netz voll von Zehntausenden Kurzvideos und Beiträgen von Durchschnittsbürgern. Doch nicht nur die staatlich kontrollierten Medien, sondern auch der Algorithmus der Plattformen spülen fast ausschließlich heroische Rettungsgeschichten in die Timeline der User. Hier lässt sich der Mechanismus beobachten, den Chinas Staatschef Xi Jinping die „Lenkung der öffentlichen Meinung“ nennt: Dem Diskurs soll auch in solch schweren Zeiten stets ein optimistischer, hoffnungsvoller Spin verpasst werden.
Und tatsächlich gab es solche Geschichten in der Tragödie zur Genüge: Das Baby, das nach 24 Stunden lebendig aus den Ruinen geborgen werden konnte. Ein 45-jähriger Mann, der eigenhändig fünf Personen aus den reißenden Fluten gerettet hat. Oder das Studentenorchester am geschlossenen Bahnhof von Zhengzhou, das scheinbar spontan ein Konzert für die Wartenden aufgeführt hat: „Ode an das Mutterland“.
Viele der kritischen Fragen hingegen sind längst aus dem chinesischen Netz verbannt. Etwa inwieweit die Dammbrüche rund um Zhengzhou die Überschwemmungen verschlimmert haben? Ob das Frühwarnsystem wirklich ausreichend gegriffen hat? Und wie es sein kann, dass das U-Bahn-System, in dem mindestens ein Dutzend Chinesen ihr Leben verloren, nicht rechtzeitig geschlossen wurde?
Die vielleicht offensichtlichste Frage hat Staatschef Xi Jinping am Freitag höchstpersönlich provoziert: Da nämlich publizierten die Propaganda-Organe seinen ersten Besuch in Tibet seit 2011. Die streng choreografierte Jubelshow wirkte doppelt befremdlich. Denn während die drittbevölkerungsreichste Provinz des Landes die schlimmsten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erleidet, bleibt der mächtigste Mann Chinas fern.
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