Historische Gräben überwinden: Eine verfallene Kulturlandschaft
Eine Reise in die geteilte Stadt Teschen und ins schlesische Mähren. Eine Begegnung mit Deutschen, Polen und Tschechen: Gefühle von Hass und Revanchismus waren gestern
In den heruntergekommenen Wechselstuben links und rechts der Friedensbrücke über die Olsa fühle ich mich in den tiefsten Osten verschlagen. Aufgelassene kleine Fabriken, Gemüseläden, Reparaturwerkstätten, Plattenbauten liegen an der polnischen Uferstraße. An dieser Grenze zwischen Tschechien und Polen herrscht längst grenzenloser Verkehr, nachdem beide Staaten dem Schengener Abkommen beigetreten sind. Cieszyn und Cesky Tesín oder einfach Teschen, wie der schlesische Ort bis zum Ersten Weltkrieg genannt wurde, ist eine geteilte Stadt. Die Grenze verläuft entlang dem Fluss Olsa.
Das Museum ist seit 2006 in einem Renaissancebau in der Grenzstadt Görlitz untergebracht. Träger des Museums ist eine Stiftung, in der die Bundesrepublik Deutschland, der Freistaat Sachsen, die Stadt Görlitz und die Landsmannschaft Schlesien zusammenwirken. Ziel ist eine Kulturlandschaft in der Mitte Europas vorzustellen, die von Deutschen geprägt war.
Brüderstraße 8, Di.-So.: 10-17 Uhr. Tel.: (0 35 81) 87 91-0
Inzwischen kaufen die Tschechen über die Brücke in Polen massenhaft Lebensmittel und technisches Gerät ein, die Polen schätzen das gute Bier auf der anderen Seite der Olsa. Ansonsten steht man sich eher skeptisch gegenüber, auch wenn sich die beiden Stadthälften gemeinsam auf das 1.200-jährige Jubiläum der Stadt 2010 vorbereiten. "Nachdem die Grenzen weg waren, hatten wir auf polnischer Seite Angst vor Zigeunern und Bettlern. Die Tschechen fürchteten unsere Taschendiebe", fasst der Bürgermeister des polnischen Teils, Bogdan Ficek, die gegenseitigen Vorurteile zusammen. In Teschen stießen das preußische Schlesien und das österreichische Schlesien aufeinander. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgmonarchie 1918 stritten sich Polen und die Tschechoslowakische Republik um das schlesische Filetstück. Erst ein Schiedsspruch der alliierten Siegermächte beendete im Juli 1920 den Konflikt. Als Folge wurde die Stadt Teschen geteilt: Die Altstadt mit dem historischen Burgberg kam zu Polen, die Tschechoslowakei musste sich mit der westlichen Vorstadt begnügen.
Die Stadt profitierte einst von ihrer Lage an der Kaiserstraße von Wien nach Krakau - eine blühende, mitteleuropäische Stadt. Ein typisch osteuropäisches Schtetl am Fluss. Der überwucherte jüdische Friedhof ist einer der ältesten jüdischen Friedhöfe Polens. Er wurde 250 Jahre genutzt und im Zweiten Weltkrieg mit der Deportierung und Verfolgung der polnischen Juden verwüstet. Im Jahr 1709 wurde die Jesuskirche, die evangelische Gnadenkirche gebaut - ein Zugeständnis der damals herrschenden Österreicher an den protestantischen Schwedenkönig. Heute lebt mit 7.000 Mitgliedern die größte protestantische Gemeinde Polens in Teschen. "Nicht ohne größere Meinungsverschiedenheiten mit dem herrschenden Katholizismus", sagt der protestantische Pfarrer Janusz Sikora.
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa, der Adalbert Stifter Verein und das Schlesische Museums in Görlitz haben diese Informationsreise ins mährische Schlesien organisiert. Schwerpunkt der Reise ist die Begegnung mit Deutschen, die nach Flucht und Vertreibung hiergeblieben sind. Beispielsweise Eugenia Dobrowolska. Die agile, elegante 77-Jährige, der es sichtlich Spaß macht zu erzählen, ist in Teschen geboren. Heute lebt sie in Gliwice (Gleiwitz) und ist Vorsitzende des dortigen Ortsverbandes für die deutsche Minderheit. Jenny, wie sie sich gerne nennen lässt, spricht den typisch schlesischen Akzent und ist unerschöpflicher Quell immer neuer alter Geschichten: von Kaisers Herrlichkeit, über die Kultur der Deutschen in Teschen, bis zu Vertreibung und Nachkriegszeit. Verheiratet mit einem polnischen Mediziner ist sie Fürsprecherin der Toleranz und gegen Revanchismus. Eine lebenskluge Frau. "Es gab gute und böse Menschen auf allen Seiten", sagt sie. Die dagebliebenen Deutschen hätten ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht, mit Vertreibung und abwechselnder Diskriminierung. "Es geht uns heute um den Erhalt der Sprache und der Kultur."
Matej Spurny, einer der Initiatoren von Antikomplex, bestätigt diese Ansicht. Wir speisen mit dem jungen Historiker und der lebenserfahrenen Jenny im Altstadtrestaurant Maska Rinderbraten mit Knödel. Auch der Prager Bürgerinitiative Antikomplex, die sich Ende der 90er-Jahren gründete, geht es um die Erinnerung an eine verfallene Kulturlandschaft. Die Initiative ehemaliger Studenten hat die Ressentiments gegen die Vertriebenen hinter sich gelassen. Noch 2002 beschimpfte der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman die Sudetendeutschen als "fünfte Kolonne Hitlers." "Über 3.000 Dörfer und Städte sind im Grenzgebiet Tschechiens verödet", sagt Matej. In dem Buch "Verschwundenes Sudetenland" hat die Gruppe diesen Prozess dokumentiert. "Die dort neu angesiedelten Tschechen und Minderheiten - neben Roma auch Slowaken und Flüchtlinge aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Griechenland - konnten die Struktur in den von den Deutschen hinterlassenen Orten nicht aufrechterhalten. Sie hatten keine wirkliche Beziehung zu der Region, ihrer neuen Heimat", sagt Matej.
Jenny begleitet uns am nächsten Morgen durch die Altstadt: vorbei am "Teschener Venedig", einer malerischen Ecke mit den Häusern der Gerber in der Nähe des Stadtwalls, weiter zum Theaterplatz, dem ersten Markplatz des mittelalterlichen Teschen. Vor dem Alten Theater im Wiener Neubarock wühlt die Erinnerung die alte Dame sichtlich auf. Im heutigen Adam-Mickiewicz-Theater, entworfen von der Wiener Architektenfirma Fellner & Hellmer, hat Jenny schon als 7-Jährige getanzt und von einer Schauspielkarriere geträumt. Ein Traum, der wie viele andere in den Wirren der Zeit unterging.
Auch der Traum der heute 86-jährigen Gerta Greipel aus dem mährischen Kronov (Jägerndorf) wurde nie wahr. Die zerbrechlich wirkende alte Dame erzählt zunächst in schleppendem Deutsch: "Lange Zeit habe ich versucht auszureisen. Es hat nie geklappt." Von den ehemals 3,2 Millionen Sudetendeutschen durften nach 1945 nur rund 200.000 in der CSSR bleiben, weil sie als antifaschistisch eingestuft wurden oder mit einem tschechischen Partner verheiratet waren. Viele waren wie Gerta Greipel als Fachkraft unentbehrlich. Sie wurden zum Bleiben gezwungen. "Wir lebten im Lager", erzählt Gerta Greipel, "zum Glück kannte uns der Chef und gab uns etwas zu essen."
Jägerndorf mit seiner ehemals wichtigen Textilindustrie besteht heute aus einem barocken, teilweise restaurierten Kern. Die aufgelassenen Textilfabriken neben der bröckelnden Synagoge sehen aus wie Mahnmale des Zerfalls, des Vergessens. Die Hälfte der 63.000 Einwohner des Kreises Jägerndorf wurden nach 1945 vertrieben. Gerta Greipel betreut heute liebevoll die kleine deutsche Bibliothek des 1991 gegründeten schlesisch-deutschen Heimatverbandes. Beim Gespräch mit den Alten des Verbandes, die oft nur mühsam ihr Deutsch hervorholen, habe ich nirgends das Gefühl von Hass oder Revanchismus. Allenfalls spüre ich Nostalgie. Das mag auch am Alter liegen, denn die Deutschen im Osten sterben aus.
Wir fahren mit dem Bus weiter durch die grüne, hügelige Landschaft, abgesehen von der Industriegegend um Mährisch Ostrau (Ostrava) ein ländliches Idyll. In Jesenik (Freiwaldau), im Zentrum eines einst beliebten Wintersportgebietes, treffen wir Aktivisten der tschechischen Umweltgruppe Brontosaurus. Sie restaurieren Brunnen und Denkmäler in verlassenen Dörfern. Vor der Vertreibung lebten in Freiwaldau 72.000 Einwohner, heute 42.000. Der Bevölkerungs- und Bedeutungsverlust der Region konnte nach 1945 nicht ausgeglichen werden. "Wir versuchen die örtliche Bevölkerung in unser Projekt miteinzubeziehen", sagt Tom Hradil von Brontosaurus beim Tee im Kulturzentrum der Gruppe. "Uns geht es darum, jenseits der ideologischen Gräben das Bewusstsein für die eigene Geschichte zu fördern."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja