Historiker über Autobahn-Mythos: „Die Nazi-Propaganda wirkt fort“
90 Jahre nach Beginn des Baus gelten Hitlers Fernstraßen immer noch für viele als Wunder. Aufarbeitung? Fehlanzeige, sagt Historiker Conrad Kunze.
taz: Am 23. September 1933 wurde Hitlers erster Spatenstich für die Reichsautobahn von den Nazis inszeniert. Warum sollten wir uns 90 Jahre später daran noch erinnern?
Jahrgang 1981, ist Historiker und Soziologe. Er engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung und forscht zur Geschichte der Autobahn. Im Transcript Verlag erschien sein Buch „Deutschland als Autobahnland“.
Conrad Kunze: Nicht nur, weil immer noch Autobahnen gebaut werden, sondern auch, weil die Propaganda fortwirkt. Der Glaube an eine Art Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit und für einen Wirtschaftsaufschwung ist im kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen fest verankert. Doch was wir als Mythos Autobahn kennen, war kein Naturereignis. Das war sehr oft wiederholte NS-Propaganda.
Warum bringen Sie in Ihrem Buch zum Thema die Autobahn mit Nationalismus und Faschismus und Männlichkeitskult in Verbindung?
Fast jede sozialwissenschaftliche Studie sollte sich mit Geschlecht und Männlichkeit befassen. Aber ganz sicher alles, was mit Autos zu tun hat. Die Bedeutung dessen habe ich erkannt, als ich den Link zu den Futuristen entdeckt habe. Das waren verunsicherte, hoch privilegierte reiche Männer, die im Auto ihre Charakterstütze gefunden hatten, natürlich ohne sie so zu nennen. Was heute die FDP, AfD oder Fridays for Hubraum machen, war also alles schon mal da.
Welche Rolle spielten die Nazis bei der Durchsetzung der zunächst gar nicht so populären Autobahn in Deutschland?
Sie haben die Reichsbahn zum Einlenken gezwungen. Diese hatte vorher die Propaganda für die Autobahn zu stoppen gewusst – und wurde dann sogar organisatorisch für den Bau der Autobahnen zuständig. Sie haben auch die Militärs beruhigt, weil sie jeglichen Wunsch erfüllt bekamen und ebenfalls nicht mehr eifersüchtig sein mussten. Und sie haben eine Art Straßenbaudiktatur installiert mit der Enteignung von Land und dem Zurückstellen aller anderen Planungen. In der Weimarer Republik hätte man aus diesen Gründen keine Autobahn bauen können. Der Bauerfolg ging dann einher mit der Verwandlung vom Eliteprojekt zur „Volksautobahn“. Ob die Nazis ohne diesen Propagandaerfolg fast 4.000 Kilometer gebaut hätten, können wir nicht wissen. Ich vermute, sie hätten sie wie ihr völkisches Theater namens Thingspiele still und leise zu den Akten gelegt.
Es gab auch Widerstand von Arbeiter*innen …
Ja es gab viele Streiks. Die sind meines Wissens aber nicht gut dokumentiert, weil es sie offiziell nicht geben durfte. Intern hießen sie „offene Rebellion“. Dass dennoch so viele noch bekannt sind und einmal sogar der Manchester Guardian berichtete, lässt ahnen, dass es sehr viele waren. Oft sind die Forderungen nach Lohnerhöhung, Wiedereinstellung eines Kollegen oder nach besserem Essen und kürzeren Schichten erfüllt worden. Erstaunlich finde ich auch, wie mutig offenbar gestreikt wurde – wegen Forderungen, die heute fast banal erscheinen. Dabei drohten SA und Gestapo-Haft. Ab Ende der 30er Jahre sind auch Arbeiter wegen Streikbeteiligung in Konzentrations- oder Arbeitslager gekommen, aber soweit ich weiß nur relativ kurz zur Abschreckung.
Welche Rolle spielte Zwangsarbeit beim Autobahnbau in Deutschland – und welche Bevölkerungsteile waren betroffen?
Zwang war vom ersten Tag an vorhanden. Die Nazis haben arbeitslose Mitglieder der KPD, der SPD und Gewerkschafter*innen auf diese Baustellen gezwungen, also ihre politischen Feinde. Wer nicht mitmachen wollte, wurde schon ab dem 24. September 1933 vom Arbeitsamt mit der Streichung des Geldes bedroht. Also haben alle mitgemacht. Die KPD-Wählerquote war überdurchschnittlich hoch bei den Arbeiter*innen und nochmals höher bei erwerbslosen Handarbeitern.
Wie veränderte sich der Autobahnbau zu Kriegsbeginn?
Ab 1938 und verstärkt 1939 wurden KZ-Häftlinge und auch jüdische Häftlinge zum Autobahnbau gezwungen. An der Ostfront in der damals deutsch besetzten Ukraine hat die SS zusammen mit den Baufirmen 150.000 Leute bei den Arbeiten zu Tode kommen lassen. Diese Durchgangsstraße 4 oder auch „Straße der SS“ führt noch heute von Lwiw nach Kyjiw und Donetzk. Insgesamt schätze ich die Zahl der am Straßenbau im Krieg Ermordeten auf 180.000 Personen.
Bei der aktuellen Kritik am Bau von Autobahnen spielt die Geschichte keine Rolle. Wieso?
Mit der Besetzung des Dannenröder Waldes vor drei Jahren ist die Kritik am Autobahnbau bundesweit gewachsen. Aber diese Scheu, das Offensichtliche zu sagen, bleibt dennoch. Die Autobahn wurde nun mal von Hitler gebaut. Aber eine Aufarbeitung des „Mythos“ Autobahn steht noch völlig aus.
Wäre also der Kampf gegen die Autobahn auch ein Beitrag zum Antifaschismus?
Ja, in Deutschland schon. Es war nun mal die „Straße Adolf Hitlers“. Es ist kein Zufall, dass viele Reichsautobahn-Videos von rechten Youtubern ins Netz gestellt werden. Die neuen Nazis wissen ganz genau, dass das ihre Architektur ist. Die Beendigung des Baus nach 90 Jahren würde den „Mythos“ Autobahn endgültig begraben.
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