HipHop und Hardcore - Caspers Album XOXO: Mein Seelenstriptease wiegt eine Tonne
Casper veröffentlicht am 8. Juli sein sehnsüchtig erwartetes Album "XOXO". Das Elixier für die dahinsiechende deutsche HipHop-Szene?
Was HipHop hierzulande in den letzten Jahren vermochte, kannte selten einen Mittelweg: Entweder gehörte man zu den bösen Jungs mit dem Gangster-Habitus, oder aber man machte pfiffigen Studentenrap mit permanentem Augenzwinkern. Zwischen Penispumpen-Sprechgesang und der Flucht ins Ironische klaffte ein tiefer Graben künstlerischer Tristesse, dem schon seit Jahren nichts wirklich Innovatives mehr entstiegen ist.
Nun aber kommt ein 28-jähriger ehemaliger Pädagogikstudent aus Bielefeld um die Ecke, der eine stramme Hardcorepunk-Sozialisation durchlaufen hat, Röhrenjeans mit kariertem Hemd trägt und dessen Haare auch an Sommertagen aus der Wollmütze heraus in die Stirn hängen. Das ist eigentlich nicht der Stoff, aus dem Hypes gewoben werden und ein neuer Messias geboren wird. Aber wenn zusammengeführt wird, was sich scheinbar ausschließt, liegen die Dinge vielleicht doch anders. In Caspers Fall sind diese Pole klar zu benennen: Rappen und Tiefgang. Sinnsuche und Melancholie halten Einzug in die deutsche HipHop-Szenerie - und werden eine ordentliche Revolution vom Zaun brechen, so viel ist sicher.
Typen wie Benjamin Griffey alias Casper bringen im Idealfall Zeilen wie "Jeder von uns ist Kunst / Gezeichnet vom Leben" hervor. Sie singen diese, ohne im klassischen Sinne zu rappen. 2008 machte Casper mit seinem Debütalbum "Hin zur Sonne" bereits auf sich aufmerksam. Mit heiserer Stimme pendelte Casper musikalisch wie textlich noch zwischen dem, was die Rapszene von ihm erwartete, und den Ansprüchen, die er wohl selbst an sich stellte. Aber "Hin zur Sonne" blieb 2008 noch ein lupenreines HipHop-Album. Diese musikalische Typisierung fällt drei Jahre später schon deutlich schwerer.
Mit "XOXO" setzt Casper nun zur großen persönlich-musikalischen Emanzipation an. Die Zeile "Kaputtmachen um aufzubauen" ist eine Reminiszenz an "Destroy and Rebuild" des New Yorker Rappers Nas. Ein Schelm, wer sich einen Bezug zur deutschen HipHop-Szene dabei denkt. Doch Veränderungen kommen auch im HipHop schlecht an, und so wird Casper zurzeit von den Kollegen kräftig gedisst.
Im Gespräch mit der taz greift Casper auf eine Analogie im Bereich der Zoologie zurück: "Wenn du Krebse fängst und in einen Eimer tust, und einer versucht, aus dem Eimer rauszukommen, haben die anderen Krebse einen Reflex, den Ausreißer festzuhalten und wieder herunterzuziehen." Bei Casper ist das vergeblich: "XOXO" ist der eindrucksvolle Beleg, dass der Krebs seinen Weg in die Freiheit gefunden hat.
Gitarren, Bässe und Piano erinnern an Postrock-Signaturen, ein sphärischer Klangteppich, der gelegentlich mit Wave- und Elektroelementen durchgebürstet wird. Die Musik ist dennoch auf Explosionen ausgelegt, aber diese entfalten ihre ganze Macht erst dadurch, dass jede Klimax bedacht gestreut wird. Den Rest erledigt Caspers zerkratzte und an Vehemenz und Eindringlichkeit kaum zu übertreffende Stimme - Überbleibsel aus alten Hardcorepunk-Tagen.
Der Schlüssel zum Casper-Hype liegt in seinen Lyrics. Die Schattenseiten des Lebens bilden die soliden Stützpfeiler von "XOXO". Casper erzählt von Geschichten aus seinem Leben. Da wird das in "Blut sehen (Die Vergessenen, Pt. 2)" zitierte tocotronische Postulat "Im Zweifel für den Zweifel" zum Programm. Aber: kein Bling-Bling, keine Gewalt, keine Prostituierten und auch keine geschundenen Mütter. Stattdessen geht es um Entfremdung. Der Song "Alaska" etwa erzählt von der Unmöglichkeit, Nähe oder gar eine Beziehung zu einem Menschen aufzubauen, der sich in sich selbst verliert. "Aus dem Bergeversetzen / wurd ein Meer von Komplexen / In verbergenden Sätzen / ein Wettbewerb im Verletzen / Vorm Wegkehren der letzten Scherben im Haus / willst du zuhören / doch Schmetterlinge sterben so laut." Oft sind Caspers Texte assoziative Gedankenströme, erzählen keine stringente Geschichte, sondern deuten nur an.
Wo man hinschaut, türmen sich Trümmer, es sind Reflexionen aus beschädigtem Leben. "Michael X." handelt von einem Freund, der sich das Leben genommen hat, "Kontrolle/Schlaf" ist Zeugnis eigener Depressionen und Selbstmordgedanken. Casper führt die Hörer an den Abgrund, um ihnen letztlich doch den anderen Weg zu weisen: "Es wäre heut nicht, wie es ist / wär es damals nicht gewesen, wie es war / der Sinn des Lebens ist leben."
HipHop und Hardcore
Negative Gedanken wandeln sich durch energiegeladene Musik zu positiv kanalisierten Gefühlen. Das funktioniert vor allem live gut. Caspers Konzerte sind ein hochprozentige Mischung aus HipHop und Hardcore-Punk, mitreißend und unheimlich kraftvoll. Hände fliegen durch die Luft, Tränen verwischen den Kajalstift, der Moshpit vor der Bühne tobt und schweigt, bis irgendwann alles in seine Bestandteile zerbricht. Das ist ein Überbleibsel aus Caspers Hardcore-Zeiten und somit auch eine weitere Abgrenzung von den HipHop-Kollegen: "In der Hardcore-Szene gibt es einen Zusammenhalt und eine Herangehensweise, die ich nach wie vor für ideal halte. Auf der Bühne stehen keine Helden, das Konzert ist selbst organisiert, alle steuern etwas zum Gelingen bei. Ganz im Gegensatz zu dieser hochstilisierten, ikonisierten, stets souveränen und unangreifbaren Rapper-Attitüde."
Casper schert sich nicht um die alten Regeln und setzt seine eigenen Standards. Von nun an wird man einige Dinge neu definieren müssen - und sollte sich hierfür klügere Zuschreibungen als "Emo-Rapper" einfallen lassen. "XOXO" ist das Ergebnis einer positiven Dialektik aus HipHop und Hardcore, Zerstörung und Erneuerung, Lachen und Weinen, Zurücklassen und Wiederfinden, Liebe und Wut, Depression und Hoffnung, alles geht fließend ineinander über.
"XOXO" (Four Music/ Sony Music)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett