: Hilflose Aufklärer
„Holocaust Education“ soll Deutschlands Schüler immun machen gegen „antidemokratische Tendenzen“ jeder Art. Viele Lehrer fühlen sich von diesem Anspruch überfordert – jetzt hilft ihnen Steven Spielbergs Shoah Foundation mit einer CD-ROM auf die Sprünge
von RALPH BOLLMANN
Die Zahlen wurden immer beängstigender. Im Frühjahr konnte der Soziologe Alphons Silbermann die Öffentlichkeit noch mit der Nachricht aufschrecken, dass jeder fünfte Jugendliche in Deutschland den Namen des Vernichtungslagers Auschwitz noch nie gehört hatte. Im Sommer kam es noch dicker: Die Zeit wusste zu berichten, zwei Drittel der jungen Deutschen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren wüssten mit dem Begriff „Holocaust“ nichts anzufangen.
Ein Anruf beim Bielefelder Emnid-Institut genügt, um herauszufinden: Ganz so schlimm ist es nicht. Erstens wissen die Achtzehnjährigen erheblich mehr als die Vierzehnjährigen – völlig ohne Ergebnis scheinen die Bemühungen der Lehrer also nicht zu sein. Und zweitens bezieht sich die Unkenntnis meist nur auf die Vokabel, nicht auf die Sache. Die Verfolgung und Ermordung der Juden ist den Schülern als historische Tatsache durchaus vertraut. Neunzig Prozent der Achtzehnjährigen wissen beispielsweise, dass die Juden einen gelben Stern tragen mussten. „Es ist nur der Begriff, den die Jugendlichen nicht kennen“, sagt Emnid-Meinungsforscher Dieter Walz. Dennoch: „Es ist skandalös, dass die Achtzehnjährigen nicht zu hundert Prozent Bescheid wissen“, findet Walz.
Helfen soll nun eine CD-ROM für den Schulgebrauch, auf der Steven Spielbergs Shoah Foundation erstmals einen Teil ihrer deutschsprachigen Interviews mit Zeitzeugen veröffentlicht. Die CD soll eine Lücke füllen, die bislang offenbar niemanden störte: Im Geschichtsunterricht der meisten Bundesländer spielt der Holocaust nur eine untergeordnete Rolle. In Berlin etwa sind am Ende der neunten Klasse rund zwanzig Stunden für den Nationalsozialismus vorgesehen. Der Aspekt „Mord und Völkermord“ ist dabei nur einer von sieben Punkten. Es bleiben also die drei letzten Unterrichtsstunden vor den Ferien, um den Schülern nicht nur die „Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungssystems“ nahe zu bringen, sondern auch – so der Lehrplan – die „Notwendigkeit der Bekämpfung antidemokratischer Tendenzen“.
Wer als Schüler seine Kenntnisse über den Nationalsozialismus vertiefen will, der sollte tunlichst das Gymnasium besuchen. Denn kurz vor dem Abitur wird umso gründlicher nachgeholt, was in den unteren Klassenstufen planmäßig versäumt wurde. In den meist obligatorischen Grundkursen zu Geschichte oder „Politischer Weltkunde“ wird das Thema relativ ausführlich behandelt. Wer das Fach Geschichte als Leistungskurs wählt, kann sich in vielen Bundesländern sogar ein halbes Jahr lang mit der Materie beschäftigen.
Bildungsplaner fürchteten bislang, sie könnten die Schüler der unteren Klassen mit der Thematik überfordern. Diese Sicht beginnt sich allmählich zu ändern. In Hessen wird neuerdings darüber diskutiert, den Holocaust bereits in der Grundschule zu behandeln. Schließlich, so argumentieren Erziehungswissenschaftler, seien auch die Zeitgenossen einst schon im Kindesalter mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik konfrontiert worden – ob nun als Täter, Opfer oder Zuschauer. Schlechter als die jetztige Lösung, pubertierende Neuntklässler mit der sensiblen Materie zu befassen, könne der Unterricht im Grundschulalter kaum sein, glauben viele Pädagogen.
Vorerst bleibt es dem persönlichen Engagement der Lehrer überlassen, wie sie mit dem Thema umgehen. Der Geschichtsunterricht spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist häufig die literarische Vermittlung von Schicksalen, die im Deutschunterricht stattfindet. Auch den Religions-, Ethik- oder Politiklehrern lässt der Lehrplan oft einen sehr viel weiteren Spielraum. Was die Pädagogen in der Praxis daraus machen, darüber hat bisher niemand einen Überblick. Das soll sich bald ändern: Die Hamburger Forschungsstelle „Erziehung nach/über Auschwitz“ bereitet mit Unterstützung der Kultusministerien gerade eine solche Studie vor.
Für die Zwischenzeit soll die CD-ROM vor allem jenen Lehrern helfen, die sich an das Thema bisher nicht herantrauten. „Sie lässt sich auch in den schlechtesten Frontalunterricht einbauen“, sagt Projektleiter Heyl. Für Ahavia Scheindlin, die den europäischen Zweig der Shoah Foundation in Berlin leitet, liegen die Vorzüge der CD-ROM darin, dass sie die Statements der Zeitzeugen „in einem sehr unemotionalen Kontext“ präsentiert und auf diese Weise zu Gesprächen anrege. Die Arbeit mit dem Medium solle „in den Köpfen der Schüler Fragen erzeugen“. Was sich daraus entwickele, hänge von Lehrern und Schülern ab.
Das Schulprojekt, bereits Anfang vorigen Jahres geplant, liegt nach der Debatte dieses Sommers plötzlich voll im Trend. Schon in den ersten Tagen nach der Vorstellung auf der Frankfurter Buchmesse gingen über tausend Bestellungen ein. Doch der Erfolg kann auch eine Gefahr sein – wenn die CD-ROM zur modernen Variante des Videorecorders wird, den ratlose Pädagogen seit seiner Erfindung zur Unterrichtung der Schützlinge einsetzen.
In den Niederlanden oder den Vereinigten Staaten gibt es längst eine rege Debatte über die Vermittlung des nationalsozialistischen Judenmords im Unterricht. Das Schlagwort „Holocaust Education“ ist dort eine gängige Vokabel, die man besser nicht ins Deutsche übersetzt. Sonst könnte womöglich jemand auf den Gedanken kommen, bemerkte der Publizist Henryk M. Broder, hier solle gelehrt werden, „wie man einen Holocaust organisiert“.
Jener pädagogische Holzhammer, mit dem manch wohlmeinender Pädagoge Betroffenheit abfragte, gilt unter Experten längst als kontraproduktiv. „Jugendliche zeigen oft ein gesundes Misstrauen, wenn sie merken, dass eine unausgesprochene Erwartung an sie gestellt wird, sich mit jemandem oder einer Sache zu identifizieren“, glaubt Heyl. Die Deutschen dächten ohnehin zu sehr in Schwarzweiß-Kategorien, sagt Scheindlin. „Wir leben aber nicht in Schwarz und Weiß, wir leben im Grau. Einer der wichtigsten Aspekte von Erziehung ist, im Grau leben zu lernen – zu lernen, in der Komplexität zu leben und kritisch zu denken“. Es gehe darum, den Schülern „die Kraft einer freien Gesellschaft“ zu vermitteln. Versuche man hingegen, Parteien wie die NPD zu verbieten oder bestimmte Positionen mit einem Tabu zu belegen, gebe man ihnen einen exotischen Anstrich und mache sie damit attraktiv.
Zu diesem Bewusstsein der Komplexität gehört es nach Ansicht der CD-Macher auch, dass man den Schülern das Geschehen nicht nur aus einer schwarz-weißen Täter-Opfer-Perspektive vermittelt. Es sei „dichter an der Lebensrealität der Schüler“, sagt Heyl, wenn sie sich in die Perspektive der Zuschauer hineinversetzten, in die Rolle jener Menschen, die Befehle ausführten oder verweigerten, zuschauten oder eingriffen. Wer mehr als nur vordergründige Betroffenheit erzeugen wolle, der müsse solche Ambivalenzen aufgreifen.
Wie auf vielen Gebieten, so hinkt die Schule auch im Umgang mit dem Holocaust dem der Gesellschaft hinterher. Dass dem Mord an den europäischen Juden heute im Geschichtsbewusstsein der Deutschen die zentrale Rolle zukommt, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. So erstaunlich es im Nachhinein erscheinen mag: In der historischen Forschung standen zunächst andere Fragen im Vordergrund, vom Untergang der Weimarer Republik bis zur Außenpolitik des nationalsozialistischen Regimes. Auch viele Achtundsechziger spielten den singulären Charakter des Judenmords mit der verharmlosenden Floskel vom „deutschen Faschismus“ herunter.
Mit der These, erst die Vernichtung der Juden mache Hitler zum „Verbrecher“, konnte der Publizist Sebastian Haffner 1978 noch Aufsehen erregen. Das erste Buch, das die Entscheidungsprozesse auf dem Weg zur „Endlösung“ nachzeichnete, erschien erst 1995 – allerdings auch deshalb, weil wichtige Dokumente in osteuropäischen Archiven zuvor nicht zugänglich waren. Die Geschichte des Begriffs „Holocaust“ spiegelt diesen Bewusstseinswandel. Er begegnete den Deutschen erstmals im Titel der gleichnamigen Fernsehserie, die 1979 ausgestrahlt wurde. Seit etwa einem Jahrzehnt hat er den Täterbegriff der „Endlösung“ ersetzt – auch das vielleicht ein Grund für die Probleme, die Deuschlands Schüler mit der Vokabel offenbar haben.
Die Konjunktur des Begriffs Holocaust in den vergangenen Jahren birgt allerdings auch Gefahren, vor allem die Gefahr der Instrumentalisierung. „Gestern Juden – heute Türken“ stand auf einem Transparent, mit dem Demonstranten 1993 in Solingen gegen den Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie protestierten. Solch eine platte Gleichsetzung wird beiden Seiten nicht gerecht. Dürfte man die Wohnungen von Einwanderern anzünden, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte? Haben es die Opfer des Holocaust verdient, schon wieder als Objekt statt als Subjekt betrachtet zu werden, diesmal als Instrument, der deutschen Gesellschaft Nachhilfe im Umgang mit kultureller Differenz zu erteilen?
„Es ist ziemlich kurzschlüssig, zu erwarten, dass Jugendliche durch die Behandlung des Themas Holocaust weniger rechtsextremistisch werden“, warnt Projektleiter Heyl vor derart vordergründigen Instrumentalisierungen. Genau das aber erwarten jene Politiker, die in der Debatte über rechte Gewalt mehr Aufklärung über den Holocaust forderten. Auf dem jüngsten Kongress der deutschen Historiker verlangte die Magdeburger Justiz-Staatssekretärin Mathilde Diederich (SPD), die Historiker müssten – um ihren Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus zu leisten – „Erlebnisse der Zeitzeugen an nachfolgende Generationen weitergeben“. Die Wissenschaftler wollten davon nichts wissen. „Man muss nichts vom Dritten Reich verstehen, um zu wissen, dass man nicht die Wohnung von Türken anzündet“, entgegnete der Freiburger NS-Forscher Ulrich Herbert.
Die methodische Frage, ob der Einsatz von Zeitzeugeninterviews überhaupt sinnvoll ist, erhitzt inzwischen kaum noch die Gemüter. Den längst gefundenen Konsens hat sich Bundespräsident Johannes Rau (SPD) für sein Grußwort zur CD-ROM aufschreiben lassen. „Zeitzeugen vermitteln uns kein ‚wahreres‘ Bild der Vergangenheit als Daten und Fakten“, heißt es da, „weil Erinnerung subjektiv ist und sich mit der Zeit verändern kann. Aber Daten und Fakten allein spiegeln uns nicht das ‚wahre‘ Bild der Vergangenheit, weil sie die Bedeutung nicht einfangen können, die Geschehnisse für Menschen haben. Beide zusammen erst machen Blicke frei auf das ganze Bild dessen, was geschehen ist.“
RALPH BOLLMANN, 31, ist Redakteur im Berlinressort der taz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen