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Hilfe für Obdachlose in BerlinBeschwerdestelle gefordert

Eine Befragung von Obdachlosen zeigt: Viele erfahren Gewalt und Diskriminierung. Und erleben ein Hilfesystem, das oft nicht hilft.

Foto: Sophie Kirchner

Berlin taz | Eine Befragung von über 200 Obdachlosen in Berlin hat erschreckende Ergebnisse gebracht. So hat ein Großteil der Befragten (64 Prozent) selbst Gewalt und/oder Diskriminierung erlebt. Aufgrund internationaler Forschungsliteratur habe man das zwar erwartet, sagte der Projektleiter von „Zeit der Solidarität“, Bálint Vojtonovszki, der taz. „Es ist trotzdem schockierend, so direkt von Gewalt zu erfahren.“

In den Gesprächen habe sich zudem gezeigt, dass Obdachlose vielerorts mit Diskriminierungen zu kämpfen haben, etwa auf Ämtern, in Geschäften, bei Arztbesuchen. Als ein Ergebnis der Befragung fordert Vojtonovszki daher von Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) die Einrichtung einer niedrigschwelligen Beschwerdestelle für Obdachlose, wo sie Vorfälle melden können.

Die Befragung hatte das Projekt „Zeit der Solidarität“, das auch für die erste Obdachlosenzählung im Januar 2021 zuständig war, zusammen mit Freiwilligen im Juni, September, Oktober und November 2022 vorgenommen. Die Interviews, in denen demografische Daten, aber auch konkrete Lebenslagen, Probleme und Wünsche abgefragt wurden, fanden in Einrichtungen der Obdachlosenhilfe – Notübernachtungen, Essenausgaben und Tagestreffs – statt.

Die Ergebnisse zeigen zum einen, dass 43,5 Prozent der obdachlosen Menschen EU-Bürger*innen sind (43 Prozent Deutsche, 12 Prozent andere) und ein Viertel der Menschen weder Deutsch noch Englisch sprechen.

Manche verlieren die Hoffnung

Auf die Frage „Was brauchen Sie am dringendsten?“ antworteten die meisten – wenig überraschend – „stabilen Wohnraum, Schlafmöglichkeit“, am besten eine eigene Wohnung. Im Bericht, der vorige Woche veröffentlicht wurde, heißt es aber auch: „Manche gewöhnen sich an den Zustand der Obdachlosigkeit und verlieren die Hoffnung auf Besserung.“

Am zweithäufigsten wurde der einfache und kostenfreie Zugang zu Nahrung, Wasser, Kleidung und hygienischer Versorgung genannt. An dritter Stelle standen Angebote und Leistungen, die schwer zugänglich oder gar nicht vorhanden sind, etwa Hilfe bei der Arbeitssuche, juristische Unterstützung und Deutschkurse.

Auf die Frage, was die größten täglichen Herausforderungen seien, wurden als Erstes psychische Probleme wie Einsamkeit, Erschöpfung, Stress und Perspektivlosigkeit genannt, gesundheitliche Probleme stellen die zweitgrößte Herausforderung im Alltag der Befragten da. Und: „Viele der Befragten berichteten, dass sie sich vom Sozialsystem nicht gut betreut fühlten oder nicht genügend Beratung und Unterstützung erhielten“, so der Bericht.

Projektleiter Vojtonovsz­ki sieht angesichts der Ergebnisse ein großes Problem bei der Sprachbarriere. „Das Hilfesystem müsse besser auf die Gruppe der Nicht-Deutschsprachigen vorbereitet sein“, sagt er. So seien die Jobcenter verpflichtet, Dolmetscherdienste anzubieten – täten dies oft jedoch nicht. Auch die bezirklichen Wohnungslosenhilfen könnten ihr Angebot verbessern, etwa indem sie mit Dolmetscher-Apps ausgestattet würden.

„Interessanter Austausch“

Die Sozialsenatorin sagte zu Vojtonovszkis Forderung nach einer Beschwerdestelle, ihr Interesse an diesem Thema sei nach einem „interessanten Austausch“ am Montag geweckt, „aber ich bin nicht final entschieden“. Zunächst sei konzeptionell zu klären, „inwieweit bestehende unabhängige Instanzen wie die Berliner unabhängige Beschwerdestelle BuBs, die bisher vor allem für Geflüchtetenunterkünfte zuständig ist, oder die Landesantidiskriminierungsstelle dafür auch infrage kommen“. Falls es eine neue Beschwerdestelle brauche, müsse man zudem sehen, „wie wir das auskömmlich finanzieren“, so Kipping.

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