Hilfe für Flüchtlingslager: „Das Virus ist eine Atombombe“
Im überfüllten Flüchtlingslager von Chios wäre auch nur ein Corona-Fall ein Desaster, sagt ein Helfer. Berliner sammeln Geld für die einzige „Klinik“.
taz: Herr Panxou, Sie arbeiten als Freiwilliger der Hilfsorganisation Salvamento Maritimo Humanitario (SMH) im Flüchtlingslager von Chios. Wie ist dort die Situation?
Vasilis Panxou: Es leben hier zurzeit rund 7.500 Flüchtlinge. Ganz genau weiß das niemand, die Leute bewegen sich auf der Insel hin und her, manche haben sich selbst eine Unterkunft gesucht. Die Bedingungen im Lager sind fürchterlich, es ist nur für 1.300 Menschen ausgelegt. Die meisten Flüchtlinge leben in selbst gebauten Verschlägen und Zelten, überall ist Matsch, und es ist winterlich kalt. Wir haben darum eine Menge Erkältungskrankheiten, Grippe, Fieber. Das sind unmenschliche Zustände!
Wer kümmert sich um sie?
Bei den griechischen Behörden herrscht Chaos, niemand fühlt sich zuständig. Es gibt hier ein paar Leute vom staatlichen Seuchenschutz im Lager. Ansonsten sind wir die einzige Hilfsorganisation hier, schon seit 2015. Nachmittags bis spät abends machen wir von SMH Sprechstunde in unserer kleinen Klinik. Wir sind zwei, drei Ärzte, drei, vier Krankenschwestern und zwei Dolmetscher. Obwohl: Gerade sind wir weniger, ein paar Helfer, die jetzt kommen sollten, stecken in Spanien fest wegen der Grenzschließungen.
Haben Sie schon Corona-Fälle auf Chios?
Nein, noch nicht, weder im Lager noch bei den Einheimischen. Die Flüchtlinge leben ja auch weitgehend isoliert vom Rest, stecken sich also hoffentlich auch nicht so leicht an. Und wir können nur hoffen, dass die Inselbewohner, die bald wegen Ostern vom Festland nach Hause kommen, sich an die Quarantänebestimmungen halten und zu Hause bleiben.
Aber ganz isoliert sind die Flüchtlinge ja nicht, wenn sie sich auf der Insel frei bewegen dürfen und zum Beispiel eine Wohnung anmieten?
Ja, sie dürfen sich auf Chios bewegen, aber nicht auf die Fähre nach Athen oder weiter. Manche haben Verwandte in Europa, die ihnen Geld schicken, mit dem sie sich hier etwas mieten können – wenn sie einen Einheimischen finden, der an sie vermietet.
47, ist Soziologe und Lehrer für Philosophie auf Chios. Zur Zeit arbeitet er als Freiwilliger für die spanische Hilfsorganisation Salvamento Maritimo Humanitario (SMH), die als einzige im Flüchtlingslager der Insel aktiv ist.
Wie ist denn das Verhältnis zwischen Inselbewohner*innen und Flüchtlingen?
Chios ist ganz anders als Samos und Lesbos. Es ist eine recht wohlhabende Insel, wir hatten keinen Rassismus hier – bis jetzt. Jetzt haben wir hier auch Nazis und Faschisten, die Probleme machen. Sie haben ein Lagerhaus mit Kleidern für die Flüchtlinge niedergebrannt, sie haben Mitarbeiter*innen von einer anderen NGO damit gedroht, dass sie deren Lagerhaus auch abbrennen, wenn sie ihre Arbeit nicht einstellen. Die Polizei hat zum Glück schnell reagiert, sie hat Verdächtige, die sie festzunehmen versucht. Es ist aber auf Chios insgesamt nicht so bedrohlich wie auf Lesbos.
Was passiert mit neu ankommenden Flüchtlingen?
Wenn ein Boot ankommt, fahren wir hin und untersuchen die Leute. Sie kommen mit allen möglichen gesundheitlichen Problemen, Diabetes, Krebs, Verletzungen. Und jetzt machen wir zusätzlich sofort einen Coronatest.
Dafür sind Sie ausgerüstet?
Ja, wir haben uns Tests besorgt. Und wenn jemand Symptome hat, die auf Covid-19 schließen lassen, isolieren wir die Person sofort und rufen die Ambulanz. Sie kommen dann in Spezialanzügen, nehmen die Person und bringen sie auf die Isolierstation im Krankenhaus. Das Krankenhaus der Insel ist groß und gut ausgestattet. Die Tests werden nach Athen geschickt, in 24 Stunden haben wir die Ergebnisse. Aber bislang waren alle Verdachtsfälle negativ.
Wie viele Leute kommen überhaupt noch auf der Insel an?
Anfang März kamen fast 300 Leute. Sie wurden vor 2 Tagen in ein neues Lager in der Nähe von Athen gebracht, andere in ein Lager in Mazedonien. Insgesamt wurden schon 2.000 Leute von den Inseln fortgebracht, die seit dem 1. März nach Griechenland gekommen sind und nach dem neuen Gesetz derzeit kein Asyl beantragen können.
Die Berlin-Brandenburger Organisation „Wir packen’s an“ sammelt Geld für Ihre Klinik. Was brauchen Sie am dringendsten?
Eigentlich alles! Gerade haben wir uns für viel Geld spezielle Masken und Schutzanzüge kaufen müssen. Ohne die darf man nach griechischen Vorschriften überhaupt niemanden mehr untersuchen. Dann ist das Haus, in dem wir untergebracht sind, ebenso wie die Lagerverwaltung, ein altes Fabrikgebäude, in das es hineinregnet. Hier braucht man Regenschirme, um alles trocken zu halten, wir mussten erst mal die Löcher im Boden überdecken, um überhaupt laufen zu können. Man müsste hier alles sanieren oder gleich neu bauen. Wir brauchen mehr Räume: Behandlungsräume, Bettenzimmer, Isolierzimmer für ansteckende Krankheiten. Im Moment haben wir nur zwei Betten für stationäre Behandlung.
Was können Flüchtlinge überhaupt tun, wenn sie schwer krank werden?
Interessanterweise hat die griechische Regierung dazu nichts gesagt, als es am Montag um neue Coronamaßnahmen ging. Sie wissen nicht, wie es mit den Flüchtlingslagern weitergehen soll. Wenn wir hier nur einen Coronafall bekommen, können wir den zwar noch ins Krankenhaus bringen, wo er isoliert wird. Aber was ist mit dessen Umfeld? Die Zelte stehen dicht an dicht, die Leute reden miteinander, essen miteinander. Das Virus ist eine Atombombe. Wenn sich hier nur ein Einheimischer, ein Flüchtling, ein Helfer damit ansteckt, haben wir sofort 400 Infizierte.
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