: Hier pflegt man den Smalltalk
Das „Casa Labra“ ist eine Kneipe mit Geschichte: Hier gründete sich die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens. Vom konspirativen Treff mitten im Zentrum Madrids zur kurzen Zwischenstation für hungrige und durstige Passanten
von HANS-ULRICH DILLMANN
Wenigen dürfte dieser Ort tagsüber auffallen. Dezent versteckt sich das dreistöckige Gebäude in der Krümmung einer kleinen Nebenstraße. Dunkle Holzflügeltüren und ebenso farbig gestrichene Metallgitter versperren den ungehinderten Zugang zu dem Lokal. „Restaurant“ steht über dem Portal – unscheinbar darunter der Name: „Casa Labra“. Das spanisch-deutsche Wörterbuch verzeichnet unter diesem Begriff: „ausarbeiten, herstellen, ein Bergwerk ausbeuten“, aber auch „den Acker bestellen, den Weinberg hacken“. „Labrar la ruina de alguien“ heißt allerdings auch „,jemanden ruinieren“. Ein böses Omen?
Am 2. Mai 1879 soll hier im Zentrum von Madrid jene Gruppe von Konspirateuren getagt haben, die gemeinhin als die Gründer der „Partido Socialista Obrero Español“, der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens, gelten – kurz PSOE genannt. Vierzig Umstürzler sollen sich damals in einem dunklen Hinterzimmer zu einem als Festbankett getarnten Gründungskongress um den Parteigründer Pablo Iglesias geschart haben: sechzehn Drucker, zwei Goldschmiede, ein Marmorschleifer und fünf Intellektuelle, so heißt es. Die Professionen der anderen Verschwörer gegen die spanische Regierung erschließt sich nicht aus den angegilbten Folianten.
Kommt man heutzutage am späten Nachmittag durch die Calle Tetuan in der Madrider Innenstadt, fällt einem das Haus Nummer 12 direkt ins Auge. Frauen und Männer stehen dicht gedrängt davor. Die hohen Flügeltüren stehen allen offen. Hier ist kein Ort zum langen Verweilen, hier pflegt man den Smalltalk oder die alkoholselige Politisiererei. Ein Raum, in dem die offenen Türen die Bahnhofsatmosphäre des ewigen Kommen und Gehens symbolisieren; wo Passanten, Käufer und Flaneure sich in Gäste verwandeln und Menschen mit Fetträndern um den Mund und einer leichten Alkoholfahne mit ihrem Schritt aus dem Innern des Lokals wieder zu Konsumenten mutieren.
„Casa Labra“ ist wie eine Blase ohne den impertinenten Uringeruch. Sie leert sich nach einer Zeit und füllt sich blitzschnell wieder. Junge Leute schauen kurz auf einen Rioja rein, der aus viereckigen gläsernen Literflaschen serviert wird. Ältere Gäste bitten eher – „Dame un tinto“ – um einen einfachen Rotwein.
Von der Decke senkt sich ein sechsarmiger Kristallleuchter bis auf knapp zwei Meter auf die Menschen herab. Auch hier hat die Moderne längst Einzug gehalten in Form von sechs Sparbirnen. Haben die spanischen Sozis womöglich bei Kerzenlicht das „Kommunistische Manifest“ von Marx debattiert?
Die Modernität hat noch mehr Tribut gefordert. Zwei winzige Kameraobjektive beobachten das bier- und weinselige Treiben vor der Theke aus. Zwei Ventilatoren aus den Fünfzigerjahren sehen aus, als hätten sie es bereits in den Siebzigerjahren aufgegeben, ihre Flügelschlägerei gegen den Duft von Bratfisch und Kroketten fortzusetzen.
Links neben der Theke findet sich ein kleines, unscheinbares weißes Emailleschild mit schwarzer Schrift: „Se prohibe cantar“, „Singen verboten“, verkündet es den Klienten. Gesang würde hier auch nur stören. „Ya lleva tiempo“, „das hängt schon lange“: Der Kellner kann sich nicht mehr erinnern, wann das Schild dort angebracht wurde. Einige Renovierungen muss es schon mitgemacht haben, denn die Maler sind unachtsam mit ihren Pinseln über den Rand gehuscht.
Vielleicht hat es der vorsichtige Besitzer aus dem vorigen Jahrhundert angebracht, nachdem die letzten Akkorde eines stimmgewaltig mit geballter Faust vorgetragenen revolutionären Liedes verhallt waren. Die „Internationale“ kann es nicht gewesen sein, denn die wurde erst 1888 von dem Franzosen Pierre Degeyter komponiert. Aber vielleicht sangen Pablo Iglesias und seine Mannen das bereits 1871 verfasste ursprünglich sechsstrophige Vorgängerlied?
Drei Kellner stehen hinter dem Tresen. Zwei andere servieren an der rechten Seitenwand, hinter einer Glasvitrine gegen den Ansturm geschützt, die kleinen frittierten Köstlichkeiten. Menschen stauen sich nur, wenn Warten angesagt ist, wenn in Spitzenzeiten die Küche nicht mehr mit dem Braten der Fischstücke oder -paste nachkommen. Ein Hinterstübchen mit Spiegelwänden und ein knappes Dutzend Tische. Der etwa fünf mal zehn Meter große Vorderraum ist rundum mit einem kleinen, zehn Zentimeter breiten Holzrand versehen, der die leere Teller und Gläser aufnimmt.
Haben die sozialistischen Aufrührer in diesem zigarettengeschwängerten Raum getagt? „Ich glaube, das war nicht hier im Lokal, sondern irgendwo im Haus. Vielleicht haben sie es durch das Lokal betreten, um von jedem Verdacht abzulenken – keine Ahnung“, ist einem Kellner mühsam zu entlocken.
An der Außenwand des Gebäudes befindet sich eine gusseiserne Tafel: „El día dos de 1879 en esta casa careciendo los trabajadores de libertad para reunirse y asociarse, se fundó clandestinamente el partido socialista obrero español – 2 de enero 1979.“
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