: „Heute bin ich meinem Vater sehr dankbar“
Auszug aus einer Kurzgeschichte (2. Preis) des diesjährigen Schreibwettbewerbs vom Zentralrat der Muslime
[...] Ich hatte die letzte Klasse der Hauptschule erreicht, als meine Lehrerin meinen Vater in die Schule einlud, um ihn über meine Weiterbildungsmöglichkeiten zu informieren. Meine Lehrerin hielt mich für intelligent und ehrgeizig und versuchte meinen Vater davon zu überzeugen, dass mein Wunsch, Rechtsanwältin zu werden, gar nicht abwegig sei. Doch mein Vater lehnte ab. Er vertrat die Ansicht, dass Frauen nicht studieren sollten, da sie sowieso eines Tages heirateten und Kinder bekämen. Mein Vater kam aus einer armen Familie. Er hatte nie die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Auch meine Mutter hatte keine schulische Ausbildung. Meine Mutter verstand mich gut und unterstützte mich in meinen Zukunftsplänen.
[...] Ich war damals fünfzehn Jahre alt und hatte keinen Mut, gegen den Willen meines Vaters zu handeln. Deshalb war ich auch mit einer Berufsausbildung einverstanden. Als Kind spielte ich gern mit Puppen und frisierte ihnen liebend gern die Haare. So kam ich zu dem Entschluss, Friseurin zu werden. Ich machte mich allein auf die Suche und bekam einen Ausbildungsplatz, weil meine Chefin von meinem selbstsicheren Auftreten sehr beeindruckt war. Mit achtzehn Jahren schloss ich mit Erfolg meine Ausbildung ab.
Nun fand mein Vater, dass es für mich an der Zeit war, zu heiraten, und zwar den Mann, den er für mich ausgesucht hatte! Ich war entsetzt. [...]
Ich bat meinen Vater, mir wenigstens die Gelegenheit zu geben, meinen zukünftigen Mann kennen zu lernen. Mein Vater stimmte zu, und es stellte sich heraus, dass wir uns sogar irgendwie sympathisch fanden. Auf Druck meines Vaters fand die Hochzeit rasch statt.
Mein Mann Ibrahim ist fünf Jahre älter als ich. Heute bin ich glücklich über die Wahl meines Vaters. Ibrahim ist ein sehr verständnisvoller und liebevoller Mensch. Er erlaubte mir eine Umschulung zur Verkäuferin, da ich aufgrund einer Allergie nicht mehr als Friseurin tätig sein konnte. Außerdem durfte ich den Führerschein machen. Inzwischen sind wir dreiundzwanzig Jahre verheiratet und führen eine ausgeglichene und gleichwertige Beziehung. […] Heute bin ich meinem Vater dankbar, dass er mir diesen guten Mann ausgesucht hat. Letztlich tat er es wohl auch, weil er der Ansicht war, dass ich noch zu jung war, selbst einen guten Mann zu finden. GÜLLHAN BAS
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