■ Heute, 19.30 Uhr: Der Bonner Bürgerbund zählt seine 31 Schäfchen: Iiiih, Protzhauptstadt!
Seit Wochen schon sind unfreiwillige Besucher Bonns – freiwillige gibt es nicht – einem Poster ausgesetzt. Auf dem steht schnörkellos schnöde: „Berlin – Protzhauptstadt der politischen Kaste. Fr., 19.6., 19.30 Uhr vor dem Bonner Rathaus.“ Das Plakat lädt zu einer Demonstration gegen den Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin ein.
Warum aber heute, an einem Freitag? Und warum am 19. Juni? Wissen die Veranstalter nicht, daß sich erst morgen das Datum zum siebten Mal jährt, an dem der Hauptstadtbeschluß gefaßt wurde, war es doch der 20. Juni 1991, ein Donnerstag?! Warum demonstrieren sie nicht morgen, wenn heute bereits gestern ist; warum haben sie nicht an dem Tag demonstriert, der heute schon gestern, morgen aber bereits vorgestern ist? Ja, kennen die keine Wochentage, können sie nicht bis 23 zählen, sind Bonner blöde Brotbeutel?
Das Poster wirft Fragen auf – sogar deutlich mehr, als heute abend Menschen vor dem Bonner Rathaus zu erwarten sind. Dr. Johannes Gröhner, Allgemeinmediziner und hauptberuflich einer der Organisatoren der Demo, hat Antworten: An jenem 20. Juni 1991 – dem Tag also, da das Unglück seinen grausamen Lauf zu nehmen begann – trafen sich einige hundert Bürger auf dem Bonner Marktplatz und taten, was selbst Bonner Demonstranten tun: demonstrieren. Einige der Demonstranten schlossen sich zum Bonner Bürgerbund zusammen, und mit dem Elan, der nur im Herzen eines Bürgerbundes so stark sein kann, kamen sie fortan immer wieder zu Donnerstagsdemonstrationen auf den Bonner Marktplatz, um sich wacker zu wehren. Obwohl es noch andere, schöne Spiele gibt, wie Topfschlagen, Reise nach Jerusalem oder Blinde Kuh, trafen sie sich bis heute, laut Gröhner, „133- oder 134mal“. Zunächst jede Woche, später einmal im Monat – vom festen Willen beseelt, den Sonnenstich, den sie sich im Juni 1991 zugezogen hatten, nicht abkühlen zu lassen, mit einer Pause im Winter. Dann wurden die Donnerstagsdemonstrationen zu Jahrestagsdemonstrationen – und deshalb auch wollte der Bonner Bürgerbund gestern nicht in Erscheinung treten. Pfffffff. Und morgen? Morgen treten im Rahmen des Festivals „Bonner Sommer“ auf dem Marktplatz „Volkstänzer von irgend 'ner Botschaft auf, oder so, den lassen wir den Vortritt, da sind wir ja kulant“.
Mit jeder Donnerstagsdemonstration indes, so eingeborene Augenzeugen, wurden es weniger Demonstranten, bis es zuletzt nur noch 31 bis 32 waren. Die haben nun das verflixte siebte Jahr überstanden und dürfen heute abend wider antreten – doch ihre Tage sind gezählt, denn ab morgen beginnen die Wechseljahre. Um Bonn wird ein großer Zaun gezogen, der mit Selbstschußanlagen verziert ist. Die Bonner Regierung darf ihre Koffer packen und in Ruhe das Sperrgebiet verlassen, „adele Rhein“ und „ick jrüß Dir, Spree“ sagen. Alle anderen Bonner dagegen tragen die Kollektivschuld an dem, was ihr Bürgerbund angerichtet hat. Sie bleiben in Sippenhaft und gehen nur noch einmal – nämlich nach den Wechseljahren vom Klimakterium ins Krematorium. Denn im Jahr 2000 wird die Stadt niedergebrannt, ihre Asche in alle Himmelsrichtungen verstreut, der Rest planiert und in ein große, grüne Cannabiswiese verwandelt. Breite Sicht vom Drachenfels auf Köln!
Bonns Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) zeigte sich übrigens wegen des Plakates „Berlin: Protzhauptstadt“ heftigst erzürnt. Im Mai forderte sie den Bonner Bürgerbund auf, die „platten und beleidigenden“ Plakate zu entfernen. „Kleinkariert, nachkarten, Ewiggestrige sind noch die freundlichsten Worte der Kritik und des Unverständnisses.“ So stellte sie die Ehre einer Stadt, die auf dem Totenbett liegt, wieder her und Bonn kann in Würde abtreten.
Wir gratulieren: Damit hat Bärbel Dieckmann ein entbeintes Fahrrad gewonnen, das am Bonner Hauptbahnhof angekettet ist. Den Schlüssel haben wir gut versteckt. Wenn sie ihn dennoch findet, darf sie sich das Gefährt selbst wieder zusammenmontieren und den anderen Politikern hinterherradeln, bevor die Stadt in Flammen aufgeht. Björn Blaschke
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