Herwarth Waldens Zeitschrift "Der Sturm": Der geheime Architekt der Avantgarde
Herwarth Walden förderte spektakulär und manchmal dogmatisch die Positionen der radikalen Moderne. Vor 100 Jahren gründete er die Zeitschrift "Der Sturm" und schuf damit einen Markennamen.
Der Name war Programm. Um 1910 erprobten Künstler aller Sparten gemeinsam in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm den Aufstand gegen den spießbürgerlichen Mief des Wilhelminismus, der wie mit einem Orkan hinweggefegt werden sollte. "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut / In allen Lüften hallt es wie Geschrei", dichtete Jakob van Hoddis in seinem berühmten Gedicht "Weltenende", das den Nerv der jungen Generation traf.
Als die erste Ausgabe des Sturm am 3. März 1910 erschien, war kaum abzusehen, dass diese Zeitschrift einmal entscheidend zur kulturellen Modernisierung Deutschlands beitragen würde. Der Sturm war das erste und langlebigste Organ des radikalen Modernismus, mit Wurzeln in der subkulturellen und intellektuellen Gruppenbewegung des Expressionismus. Hier erschienen unter anderem die verstörende Prosa Alfred Döblins, die klangvolle Lyrik Else Lasker-Schülers und die Unruhe verbreitenden Wandlungs- und Erlösungsdramen von Oskar Kokoschka, der als bildender Künstler das Layout der Zeitschrift maßgeblich geprägt hat. Aber auch den Brücke-Künstlern, dem Blauen Reiter, den Futuristen, Kubisten, Konstruktivisten und den späteren Protagonisten des Bauhauses standen die Zeitschrift und ab 1912 die Kunstgalerie Der Sturm offen.
Herwarth Walden, der Spiritus Rector des Sturm, versuchte mit allen Mitteln, den allerneuesten Bestrebungen in Literatur, Musik, Theater, Architektur und bildender Kunst ein übergeordnetes Forum zu geben. Der Sturm druckte die Manifeste der italienischen Futuristen und zeigte in der Galerie von April bis Mai 1912 erstmalig in Deutschland Arbeiten von Boccioni, Carrà, Russolo und Servini. Den Architekten Adolf Loos unterstütze Walden publizistisch mit allen Kräften, als dessen "Haus am Michaelerplatz" durch die Wiener Baubehörden in Gefahr geriet. Für Kandinsky organisierte er einen lautstarke Kampagne, nachdem die Hamburger Ausstellung des Künstlers bei Louis Bock & Sohn vom Hamburger Fremdenblatt verrissen wurde.
Als Georg Lewin im Jahr 1878 in Berlin geboren, studierte Herwarth Walden bei Conrad Ansorge Musik. Er heiratete im Jahr 1903 die Dichterin Else Lasker-Schüler, die ihm auch seinen Künstlernamen gab. 1904 gründete er den Berliner "Verein für Kunst" (V.f.K.), ein Podium für Lesungen ausschließlich moderner Autoren. Aus den Veranstaltungen des Vereins entwickelten sich später die Sturm-Kunstabende, die der expressionistischen Wort- und Lautkunst verpflichtet waren. Autoren wie August Stramm, Rudolf Blümner oder Kurt Schwitters trugen hier ihre Gedichte vor. Bei dieser Lesebühne ebenso wie beim frühexpressionistischen Neopathetischen Cabaret in Berlin oder beim dadaistischen Cabaret Voltaire in Zürich kam es auch auf die Performance an, wobei die Stimme als wichtigstes mediales Instrument fungierte. Mit einigem Recht könnte man behaupten, dass heutige Poetry Slams ein wenig in dieser Tradition stehen.
Doch der avantgardistische Enthusiasmus der Künstler um Walden traf auf Widerstand in der deutschen Kulturszene. "Hottentotten im Oberhemd", "farbenspritzende Brüllaffen", "Neger im Frack" oder "Gemäldegalerie eines Irrenhauses": Dies waren nur einige der Beschimpfungen, mit denen die Ausstellungsarbeit des Sturm vom konservativen Feuilleton bedacht wurde. Unter der Überschrift "Lexikon deutscher Kunstkritik" veröffentlichte Walden die medialen Reaktionen auf den Ersten Deutscher Herbstsalon (1913), der größten Ausstellung avantgardistischer Kunst vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, die er federführend organisierte. Kenntlich wurde an den Kritiken etwa des übermächtigen Berliner Tageblatts, die Unfähigkeit und der Unwille, sich auf die Arbeiten von Künstlern wie Henri Rousseau, Sonia Delaunay-Terk, Natalie Gontscharoff oder Wassily Kandinsky überhaupt nur einzulassen. Die rassistischen Zuschreibungen bereiteten eine Argumentationslinie vor, der sich die NS-Propaganda dann bruchlos bedienen konnte und die später viele der Künstler als "entartet" verunglimpfen sollte, die Walden entdeckt und in seiner Kunstgalerie ausgestellt hatte.
In einer leer stehenden Villa im Berliner Westen, quasi als Pionier der Zwischennutzung, zeigte Walden 366 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die von insgesamt 90 Künstlern aus ganz Europa stammten. Angeregt von der synthetisch-konstruktiven Formen- und Bildersprache, die ihm im Ersten Deutschen Herbstsalon entgegentrat, schrieb der Architekt Bruno Taut im Sturm: "Eine Intensität hat Künstler aller Künste ergriffen. Die Plastik und die Malerei finden sich auf rein synthetischen und abstrakten Wegen und man spricht überall von dem Aufbauen der Bilder. […] Es geht eine geheime Architektur durch alle diese Werke und hält sie alle zusammen." An diese Gedanken der Architektur als ars magna konnte 1919 auch Walter Gropius in der Programmatik des Staatlichen Bauhauses Weimar nahtlos anknüpfen.
Walden seinerseits ließ sich von seinen Kritikern aus dem rechten Lager nicht einschüchtern. Der Sturm veranstaltete in seiner Geschichte mehr als 170 Ausstellungen in Berlin, zwischen 1912 und 1924 wurden in über vierzig Städten des Reichsgebietes und in 15 Staaten Sturm-Wanderausstellungen präsentiert, unter anderem in den USA, England und Japan. Walden gelang es zwischen 1910 und 1932, den Kunstbetrieb zu revolutionieren, die künstlerische Avantgarde unter dem Label "Sturm" und "Expressionismus" zu sammeln und mit der Etablierung dieser Marke auch neue Käuferschichten und Sammlerkreise zu erreichen. Es entstand vielleicht der erste moderne Kunstkonzern in Deutschland, der weit über die Zeitschrift, Galerie und den Verlag hinausging. Es wurden Künstlerpostkarten veröffentlicht, eine Buchhandlung Der Sturm gegründet, dem Theater mit der Sturm-Bühne ein Podium geschaffen. In der Kunstschule Der Sturm vermittelte man die expressionistische Ästhetik an lernwillige Schüler. Damals oft vom Publikum und der Kritik mit Hohn und Spott überschüttet, gehören heute viele der "Sturm-Künstler" (Walden nannte jeden so, der einmal bei ihm ausgestellt hatte) zu den Ikonen der Klassischen Moderne.
Von den Nationalsozialisten als Jude und Kulturbolschewist angefeindet, verließ Walden Ende 1932 Berlin und ging nach Moskau. Seit 1933 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprache am Moskauer Pädagogischen Institut, verteidigte er auch in Zeiten des Hochstalinismus trotz Formalismus-Verdikt couragiert die abstrakte Kunst und die Freiheit des Künstlers. Dies war in der "Menschenfalle Moskau" (Reinhard Müller) der Jahre 1937/38 keine ungefährliche Position. Im Frühjahr 1941 als deutscher Spion verhaftet, kam Walden in ein Lager nahe Saratow, wo er einige Monate später an den strapaziösen Haftbedingungen starb. Im Jahr 1966 wurde er offiziell rehabilitiert.
Der Autor hat sich als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung in seiner Dissertation mit dem Dialog der Künste im "Sturm" befasst. Die Arbeit erscheint im Aisthesis-Verlag.
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