Hermann Kuhn über seine politische Karriere: „Mehr ,Öko‘ als zu Beginn“
Nach Jahrzehnten als Abgeordneter verlässt Hermann Kuhn die Politik. Dass er vom Kommunisten zum Grünen wurde, bereut er nicht.
taz: Herr Kuhn, Klaus Wowereit erzählte einmal, er habe eines Tages beschlossen: „Ich will Berufspolitiker werden.“
Hermann Kuhn: Wenn man sich traut, zur Bürgerschaft zu kandidieren, ist das immer eine Entscheidung in diese Richtung. Ich lebte 1991 aber noch mit der Illusion, das könnte in Bremen ein Halbtags-Job sein. Dann hat sich sehr schnell eine Situation entwickelt, in der alles andere nur „nebenher“ war. Man wird auch als Berufspolitiker angesprochen. Aber auch 1995 habe ich als Setzer weitergearbeitet, nebenher. Richtig angenommen habe ich diese Entscheidung erst 1999, als ich dann erneut kandidierte.
Gab es vorher richtige Berufsziele?
Als ich in Kiel Abitur gemacht habe, 1964, wurde noch jeder aus dem Jahrgang in der Zeitung mit Namen gewürdigt und gefragt, was er werden will. Da habe ich eingetragen: „Philosoph“.
Das war ehrlich?
Nein, das war Spaß aus Verlegenheit. Ich wollte studieren, war fasziniert von Philosophie. Ich habe dann Germanistik studiert, Politik, Pädagogik, auch Philosophie, aber Philosoph als Beruf habe ich nie ernst genommen.
Zwischen der Phantasie, Philosoph zu werden und Ihrem Beruf als Schriftsetzer liegen aber doch Welten.
Dazwischen liegt die Studentenbewegung. Ich habe erst studiert mit einer akademischen Laufbahn vor Augen, dann kam die Phase, wo viele studierten, um „dem Volk zu dienen“. Ich habe meine Lehrerprüfung gemacht, bin dann aber zweimal rausgeflogen. So war der Beruf des Schriftsetzers durch die Verhältnisse erzwungen.
70, war zwischen 1991 und 2015 für die Grünen Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. Nach dem Abitur an der altsprachlichen "Kieler Gelehrtenschule" studierte er in Kiel, München und Frankfurt. Seine Tätigkeit als Lehrer wurde durch den Radikalenerlass beendet, nachdem er 1975 für den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) für die Bürgerschaft kandidiert hatte. Er arbeitete dann als Schriftsetzer. 1989 promovierte er mit einer Arbeit über "Autobiographische Schriften von Exkommunisten im geteilten Deutschland".
Im Protokoll der Bürgerschaft wird viel Wert auf Titel gelegt, „Dr. Hermann Kuhn“ steht da.
In meiner Doktorarbeit, die ich in den 80er-Jahren geschrieben habe, ging es um Autobiografien von Ex-Kommunisten im geteilten Deutschland. Das daraus entstandene Buch heißt „Der Bruch“. Es hatte mit Literaturgeschichte zu tun, aber vor allem damit, wie Kommunisten damit zurecht gekommen sind, dass sie in ihrem Leben lange Jahre einem bestimmten Gedanken angehangen haben, dann aber ihre Meinung änderten.
Wie haben Sie diesen Bruch verarbeitet?
Die meisten haben eine Legende entwickelt, nach der alles in Ordnung war, solange sie dabei waren.
Das war auch autobiografisch?
Das steht nicht drin, war aber natürlich ein wenig so.
Ging es nicht auch um das Thema, dass Antifaschismus keineswegs eine demokratische Haltung implizierte?
Das spielte eine Rolle. Die, die sich nach 1945 als Antifaschisten verstanden, haben sehr schnell vor der Frage gestanden, wie sie zur Demokratie stehen. Das war nicht selbstverständlich und führte zu schweren Konflikten.
Bei den aktuellen Feiern zum Sieg über den Faschismus in Russland sieht man das?
Die Gegnerschaft zu Hitler, so ehrenwert und erfolgreich sie Gott sei dank gewesen ist, war keine Garantie für eine demokratische Überzeugung. Schon im spanischen Bürgerkrieg haben die Antifaschisten der Komintern, die gegen Franco gekämpft haben, gleichzeitig Sozialdemokraten und Anarchisten als Andersdenkende grausam verfolgt.
War es ein großer Schritt, aus kommunistischem Kontext zur Umweltpartei zu wechseln?
Zu den Grünen bin ich 1989/1990 gekommen, weil ich den Eindruck hatte, dass sie die einzigen sind, die verstehen, was da eigentlich passiert beim Fall der Mauer. Ihre Haltung zu den Gewerkschaften passte zum Beispiel nicht immer zu meiner Arbeit als Betriebsrat beim Weser Kurier. Aber ich hatte als Vertrauensmann der Gewerkschaft eine große Aktion für Solidarnosc und die polnische unabhängige Gewerkschaftsbewegung gestartet - gegen die hauptamtlichen Gewerkschafter, die damit nichts am Hut hatten. Ich kannte Polen und diese Art von Arbeiterbewegung. Henning Scherf war damals noch nach Riga gefahren und hatte mit dem alten KP-Mann dort bis zuletzt gekumpelt und sich, wie Helmut Schmidt heute noch, vor allem um die Stabilität gesorgt - mit mehr Verständnis für die russische Interessenlage als für die Bürgerrechte. Da war mir die Haltung der Grünen sehr viel näher.
Und die Umweltpolitik?
Klar, gegen Atom war sowieso jeder. Durch meine europapolitische Arbeit, aktuell für besseren Meeresschutz, bin ich aber heute viel mehr „Öko“ als zu Beginn.
Nun liegen 25 Jahre Parteipolitik hinter Ihnen?
Erst einmal 12 Jahre Bürgerschaft bis 2003, dann hatte ich das Gefühl, dass ich eine Pause machen sollte. 2007 habe ich wieder kandidiert.
Was sind oder waren große Erfolge dieser Arbeit?
Man kann als Mitglied im Haushaltsausschuss zu vielem beitragen, aber natürlich nichts für sich allein reklamieren, zum Beispiel die Einführung der City Tax. Die Initiativen für die Verfassungsänderungen, von 1994 an, vor allem die Erleichterung der Volksgesetzgebung bis heute, habe ich immer sehr stark betrieben. Die Absenkung des Wahlalters, die Verkleinerung des Parlaments auf 83 Mitglieder: das war richtig. Ich habe den Untersuchungsausschuss zum „Bremer Vulkan“ geleitet mit einem einstimmig beschlossenen starken Bericht. Und ich glaube, dass ich über 20 Jahre die europapolitische Debatte mit geprägt habe, auch als Vertreter Bremens im Ausschuss der Regionen.
Im Moment wird wieder über das neue Wahlrecht diskutiert.
Das war eine Initiative von „Mehr Demokratie“ in der Zeit, in der ich nicht im Parlament war. Die Grünen haben das unterstützt. Aber die Abschaffung des Radikalenerlasses geht auf meine Initiative zurück. Die Umwandlung des Unterrichtes in „Biblischer Geschichte“ in einen Unterricht über Religion, habe ich vor fünf Jahren initiiert. Bei meiner Verabschiedung wurde erwähnt, dass ich 1992 in einer Pressemitteilung gefordert habe, dass der Deutsche Fußball-Bund sich an den Kosten für die Polizeieinsätze beteiligen müsse. Daran hatte ich mich zum Beispiel überhaupt nicht mehr erinnert.
Der alte Genosse Winfried Kretschmann konnte nicht davon überzeugt werden, dass die Bremer Altschulden von Bund und Ländern übernommen werden müssen?
Ich hatte ihn schon nach Bremen eingeladen, als er noch der Fraktionsvorsitzende in Baden-Württemberg war. Er hatte immer einen anderen Blick auf die Frage des föderalen Wettbewerbs. Aber: Winfried Kretschmann hat schon bei den Verhandlungen über die Neuordnung des Föderalismus 2006 eine Lösung der Altschuldenfrage eingefordert.
Auf internationaler Bühne wird Ihr Name mehr mit der deutsch-israelischen Politik als mit Polen verbunden.
Ja, ich bin seit 1995 Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Bremen. Polen war mir immer nahe, zudem auch Riga und Lettland. Aber es ist ja schön, dass es über Polen in der Zeit keine Konflikte gab.
Die Grünen haben diejenigen, die sie 2011 nach Fukushima wählen, nicht an sich binden können. Warum nicht?
2011 war eine besondere Situation. Wir haben in ganz verschiedene Richtungen verloren. Wir haben den Eindruck erweckt, und die Medien haben das auch widergespiegelt, dass es um nichts mehr gehe. Das erklärt einen Teil der Nichtwähler und der Stimmen, die für Luxus-Projekte wie „Die Partei“ abgegeben wurden. Nur wenn man wirklich gar keine Sorgen hat, kann man sich so über den Politikbetrieb lustig machen. Was die Linken angeht: Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass ihr Weg in mehr Schulden nur dazu führt, dass wir das Geld der Steuerzahler den Banken als Zinsen geben, statt sie für Schulen und Kitas ausgeben zu können. Was soll an diesem Weg sozial sein? In der Umwelt- und Energiepolitik haben wir viel erreicht, aber die Aufgaben sind noch riesig. Ich glaube auch, wir könnten deutlicher machen, was Winfried Kretschmann verkörpert: Eine ökologische Wende kann nicht gegen „die“ Unternehmen gehen, sondern wir brauchen sie dabei und umgekehrt.
Was macht ein Berufspolitiker als Rentner?
Meine ehrenamtliche Tätigkeit werde ich sicherlich fortsetzen, etwa in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. In der Europa-Union bin ich gerade in das Präsidium gewählt wurden. Mit 70 hat man aber auch das Recht, dass man es nicht so genau weiß. Es haben sich viele Bücher angesammelt, die ich lesen möchte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch