Herbst in Altona: Gelbe Blätter und „Für Elise“
Ein Fußballspiel, Föhns, ein toter Filmregisseur und Beethoven. Die Kolumnistin weiß, das geht ein bisschen durcheinander. Aber so lebt man nun mal.
W ie ist die Stimmung? 3.500 HSV-Fans ziehen grölend vom Altonaer Balkon über die Reperbahn zum Millerntorstadion. Ich sehe mir den Film „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ an (Godard ist gestorben). Währenddessen verfolgt mein Mann auf seinem iPad das Derby, und dann wird der Tag zu dem Tag, von dem man später in Texten wird sagen können: Das war der Tag, als St. Pauli 3:0 gegen den Hamburger SV gewann.
Auch ich stehe eher auf der Seite vom FC St. Pauli, die Mitte ist nichts als ein Mythos. Deshalb stehen die Leute, die behaupten, weder rechts noch links zu sein, meistens ein bisschen oder auch sehr viel weiter auf der rechten Seite, als sie vielleicht glauben.
Die links von der Mitte sagen solche Sätze einfach nicht.
Ich las gerade in einem sehr guten Buch, „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow, dass schon vor fünftausend Jahren mit Bällen gespielt wurde – eine oft sehr gewalttätige Angelegenheit. Ein bisschen Gewalt gab es auch am Freitag vor dem Millerntorstadion: „… das ist auch für die Polizei nicht schön, aber es muss nun mal sein“, sagte Sandra Levgrün, die Hamburger Polizeisprecherin.
Mittwochnacht, nach meiner drittletzten Lesebühne, gehe ich die Chemnitzstraße entlang und stoße auf eine Pappkiste mit vier Haartrocknern. Ein Föhn ist schwarz, ein Föhn ist lila, ein Föhn ist türkis und ein Föhn ist schwarz mit weißen Schmetterlingen (!), dazu Aufsätze, vielerlei Föhn-Zubehör, aber nichts thematisch Abweichendes.
Ich zolle dieser monothematisch sortierten Kiste Anerkennung. Was hat sich dieser Mensch gedacht? Fünf Föhne, da können doch vier weg? Einen wird er wohl behalten haben? Ich gehe die Chemnitzstraße entlang und denke über das Föhnen nach, ich föhne nicht, aber es ist etwas so Wohliges dabei, ein Kindheitsgefühl.
Ich weiß, das geht ein bisschen durcheinander, aber so lebe ich nun mal und nicht nur ich. Bringt man es in einem Text zusammen, gehört es zusammen, das ist der Trick.
Am Freitagnachmittag, als der HSV-Fan sich längst eingegrölt hat, steht in der Großen Bergstraße vor dem TK Maxx ein Mann, der auf der Gitarre „Für Elise“ spielt. Die Große Bergstraße klebt voller gelber Blätter, der Himmel darüber ist weiß, die Leute rennen rum und kaufen ein, der Mann spielt „Für Elise“. Das ist die Stimmung, das ist der Herbst 2022 in Hamburg Altona/Deutschland/Europa. In all dem ist noch mehr drin, in den Einkaufstaschen, in den Bäuchen, in den Handflächen, während sie alle so ihren Weg gehen und „Für Elise“ hören müssen, für diesen Moment. Das entlockt den Leuten nichts, keinen müden Cent kriegt dieser Mann, es wundert mich nicht.
Es sind die Bomben, die nebenher fallen, es sind die Eisfelder, die nebenher schmelzen, und ich kaufe mir trotz allem kleine Kopfhörer, damit ich unterwegs, auf der Straße, während ich so spazieren gehe, Musik hören kann: „Ascenseur pour l’échafaud“, den Soundtrack zu dem Louis-Malle-Film von Miles Davis. Jede geht auf ihre eigene Weise spazieren.
In dem Film von Godard geht manchmal plötzlich der Ton weg, dann bleiben nur die Bilder, und dann ist der Film am härtesten, weil wir dann unserem eigenen Ton ausgeliefert sind, in unseren eigenen Körpern. Ein Mann bittet um Streichhölzer, ein Junge gibt sie ihm, der Mann zündet sich an. Aber man sieht es nicht. Das Bild bleibt friedlich. Das ist die Stimmung, das ist wie es ist. Und vier Föhne in einer Kiste, einer davon mit Schmetterlingen bedruckt.
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