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■ Der Islamismus ähnelt auf verblüffende Weise dem Faschismus. Dieser ist seit 15 Jahren weltweit wieder aktuellHerausforderung der 90er Jahre

taz: Wodurch grenzen Sie den „historischen Faschismus“ vom „neuen Faschismus“ ab?

Walter Laqueur: In Europa ist der Unterschied ganz offensichtlich. Der „historische Faschismus“ war aggressiv und expansionistisch, der „neue Faschismus“ ist defensiv und wendet sich nach innen. Selbst die extremen Faschisten wollen heute keine riesige Aufrüstung der Streitkräfte und Eroberungskriege. Ideologisch gesehen haben sich die meisten rechtsextremistischen Gruppen zu starken Anhängern der europäischen Solidarität gegen allgemeine Gefahren wie Identitätsverlust, ausländische Einflüsse und den Zustrom von Einwanderern entwickelt. Dahinter steht die Idee einer „Festung Europa“. Das wird ganz deutlich am Beispiel der Front National des Jean-Marie Le Pen in Frankreich.

Eine Ihrer brisantesten Thesen besagt, daß der radikale Islam dem Faschismus auf verblüffende Weise ähnlich sei.

Der radikale Islam, oder besser Islamismus, ist keine Religion, sondern eine auf religiösen Elementen basierende Ideologie. Zu seinen Gemeinsamkeiten mit dem „historischen Faschismus“ gehören: der antiwestliche, antiaufklärerische Charakter, die Ablehnung der Werte einer liberalen Gesellschaft und der Menschenrechte, die Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv, die Befürwortung einer elitären Führerschaft und einer diktatorischen oder autoritären Regierung, der verbreitete Einsatz von Propaganda und Terror, Kompromißlosigkeit und Aggressivität sowie Fanatismus und missionarischer Eifer. Der radikale Islam sieht die Revolte gegen den Westen und die Moderne im allgemeinen als seine Hauptfunktion an. Eine solche Grundposition weist viele Ähnlichkeiten mit der traditionellen Haltung der extremen Rechten in der europäischen Geistesgeschichte auf.

Würden Sie den islamischen Fundamentalismus mit dem Faschismus gleichsetzen?

Natürlich kommt der radikale Islam aus einer ganz anderen Tradition, aber seine Ähnlichkeiten mit dem Faschismus sind in der Tat überraschend, sowohl auf ideologischem Gebiet als auch in der politischen Praxis. Diese Radikalen, die Gewalt und Terror befürworten, legen die heiligen Schriften willkürlich aus. Von ihnen sind in Nordafrika und im Nahen Osten bis heute mehr Akte individuellen Terrors begangen worden, als die Faschisten und Nationalsozialisten vor ihrer Machtübernahme begingen. Andererseits gehören auch der Scheich von Al Azhar in Kairo, der führende Schriftgelehrte in der muslimischen Welt, und die Herrscher von Saudi-Arabien zu den Fundamentalisten. Sie neigen aber weder zum Faschismus noch zum Terrorismus.

Welche Entwicklungspotentiale sehen Sie für radikale Islamisten?

Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß sie ihren Einfluß in den nächsten Jahren noch verstärken. In Afghanistan und im Sudan sind diese Kräfte bereits an der Macht, und in Algerien, der Türkei und einigen weiteren Ländern haben sie an Einfluß gewonnen. Je zurückgebliebener ein Land ist, desto größer sind die Aussichten auf einen Erfolg der Radikalen. Allerdings sollte man die politischen Gefahren, die aus dem Islamismus erwachsen, auch nicht übertreiben.

Steht zu befürchten, daß gerade Europa zum bevorzugten Ziel islamisch-fundamentalistischen Terrors werden könnte? Daß also Vorkommnisse wie die Anschläge in der Pariser Metro epidemische Ausmaße annehmen?

Man soll sich davor hüten, über den Terrorismus zu prophezeien. Beim Terrorismus handelt es sich nicht um Massenbewegungen, sondern immer um die Taten von wenigen einzelnen Menschen. Im Prinzip kann es überall, auch im friedlichsten kleinen Land, zu einer Katastrophe kommen. Bisher gab es ein Tabu, was die Anwendung von Massenvernichtungsmitteln durch Terroristen betrifft. Dieses Tabu wurde zum ersten und bestimmt nicht zum letzten Mal mit den Anschlägen in der Untergrundbahn von Tokio gebrochen. Mitglieder von extremen Sekten mögen sich in ihrer krankhaften Phantasie einbilden, daß Andorra eine Kolonie Satans ist und daher vernichtet werden muß.

Verschärft der zunehmende „Multikulturalismus“ die Krise der Demokratie?

Mit dem Auftauchen neuer ethnischer Minderheiten in Westeuropa ist ein politisches Problem entstanden. Unter den Beweggründen, die zu einem Wiederaufleben faschistischer oder faschistoider Bewegungen führten, war keiner größer als die Furcht, von Einwanderern überrollt zu werden. Ich habe hier die Einwanderung von Westindern und Asiaten nach Großbritannien, von Nordafrikanern nach Frankreich, von Türken, Marokkanern und anderen nach Deutschland im Blick.

Solange ein scheinbar unbegrenzter Arbeitskräftebedarf bestand, beschwerten sich nur wenige Europäer über die Anwesenheit der Ausländer. Aber sobald die Arbeitslosenzahl unter der einheimischen Bevölkerung stieg und klar wurde, daß die meisten Fremden nicht in ihre Heimat zurückkehren wollten, gewann die Frage vorrangige politische Bedeutung.

Anlaß zu großer Besorgnis gibt heute der enorm hohe Anteil von Ausländern unter den Arbeitslosen in den europäischen Ländern. In den Niederlanden sind bereits 40 Prozent der türkischen und marokkanischen Einwanderer ohne Arbeit, während nur sieben Prozent der Niederländer keine Beschäftigung haben. In anderen Ländern herrscht ein ähnliches Mißverhältnis. Eine solche Ungleichheit stimmt die Fremden feindselig gegenüber den „reichen“ Einheimischen. Gleichzeitig zeigt sich die einheimische Bevölkerung verärgert über die „Schmarotzer“ und sträubt sich zunehmend, alljährlich Milliardenbeträge für Sozialleistungen, Ernährung und Unterkunft der nicht arbeitenden Fremden zu zahlen. So nehmen ethnischer Hader und Klassenkonflikte zu, ebenso wie das Verlangen nach einer „starken Regierung“.

Als das schlimmste Szenario für die Zukunft bezeichnen Sie die Schaffung einer „Festung Europa“. Sehen Sie Alternativen?

„Festung Europa“ ist nicht das schlimmste Szenario. Ein neuer Krieg oder eine ähnliche Katastrophe wäre natürlicher schlimmer. Zu einer Festungs- oder Lagermentalität, wie es die Buren nannten, wird es aber nur kommen, wenn ein real erkennbarer Feind auftritt oder Gefahren sichtbar werden, die alle bedrohen. Im Augenblick sehe ich keinen solchen Feind, auf längere Sicht aber sehr wohl. Interview: Adelbert Reif

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