Hélène Cixous über Amoral und Poesie: Die Vögel im Text singen hören

Die Grande Dame des Poststrukturalismus sinniert über die Geheimnisse von Texten und ihr Interesse an dem Unerwarteten.

Poesie und Psychoanalyse. Bild: reuters

Hinterhof eines Cafés. Ein schöner Sonnentag in Berlin. Hélène Cixous hat für die Passagen-Gesprächs-Reihe im Theater Hebbel am Ufer Paris verlassen. Sie gilt als die Grande Dame des Poststrukturalismus. Ihre Sprache ist die der Poesie. Was das genau bedeutet, wollen wir im Gespräch klären. Sie spricht leise und langsam, aber bestimmt. Jedes Wort ist wohl überlegt. Cixous, 1937 in Oran (Algerien) geboren, kam 1955 nach Frankreich und bewegte sich in Pariser Intellektuellenkreisen. Sie war mit Jacques Derrida befreundet, mit dem sie Bücher schrieb. Mit ihrem Essay „Das Lachen der Medusa“ prägte sie den Begriff der écriture féminine. Eine Interventionsform, die eng mit der Psychoanalyse und der Dekonstruktion verwoben ist. Cixous’ Schreibweise und Literaturtheorie ist keine festlegende, sondern eine suchende.

taz: Frau Cixous, Sie haben „Das Lachen der Medusa“ 1975 in Frankreich veröffentlich. Erst 38 Jahre später erscheint Ihr Essay auf Deutsch. Warum?

Hélène Cixous: Es beginnt in den Siebzigern und hat mit der französischen Theorie und der deutschen Rezeption zu tun, die sich dem widersetzte, was der feministische Diskurs zu der Zeit war oder sein sollte. Ich habe mich selbst nie als Feministin gesehen. Ich gehöre zur Frauenbewegung, aber das ist nicht das primäre Motiv für mich. In der Zeit, in der ich bekannt wurde, etablierte sich in Deutschland ein Denken, das marxistisch geprägt war. Sie haben also keinesfalls einen Denkansatz gewürdigt, der offen für die Psychoanalyse und die Dekonstruktion war.

Ihre Texte erinnern an eine psychoanalytische Sitzung. Sie gehen assoziativ vor, manchmal sind sie wie ein Bewusstseinsstrom. Haben Sie sich bewusst entschieden, so zu schreiben?

Das kann man nicht entscheiden.

Sondern?

Es kommt einfach so. Für das Théâtre du Soleil habe ich wieder „Macbeth“ gelesen. Darin gibt es diese langen, wunderbaren Szenen der Beobachtung von Gefühlen, Leidenschaften, Ängsten. Da ist es etwas, das die Charaktere nicht verstehen, also unternehmen sie immer wieder die Anstrengung, sich selbst zu entschlüsseln. Das dauert vielleicht zwei Zeilen, und drei Zeilen später haben sie wieder die Spur verloren. Wenn ich schreibe, mache ich genau das.

In Ihrer Arbeit fallen die autobiografischen Elemente auf. Wie wichtig sind eigene Erfahrungen für Ihr Schreiben?

Die Frau: 1937 in Oran geboren. Sie geht 1955 nach Paris, kämpft Seite an Seite mit Michel Foucault gegen die miserablen Bedingungen in den französischen Gefägnissen. 1986 gründete sie nach den Studentenprotesten die Reformuniversität Vincennes mit.

Das Werk: „Insister. An Jacques Derrida“, Passagen Verlag, Wien 2014, 128 S., 19,90 Euro; „Das Lachen der Medusa“, Passagen, Wien 2013, 200 S., 23,60 Euro.

Das erste Modell oder das nächste Objekt, das du beobachten kannst, bist du selbst.

Sie selbst schreiben poetisch.

Natürlich. Philosophie sollte auch so sein.

Aber oft wird Philosophie nicht poetisch geschrieben.

Dann ist es keine Philosophie.

Sollte Philosophie nicht eher neue Begriffe kreieren, um neue Denkweisen zu öffnen?

Genau das ist der Weg zur Poesie. Wenn Heidegger etwas erklären möchte, muss er poetisch sein. Und er benutzt auch Poesie.

Es gibt aber einen Unterschied zwischen poetischem Schreiben und analytischem.

Es ist einfacher, in poetischen Begriffen zu denken, denn wenn man Poesie oder poetisch sagt, können Menschen träumen. Sie verstehen, dass etwas jenseits des Möglichen passiert und daher nicht sofort lesbar ist. Sie müssen den Text sich anhören, er hat Musik in sich und versteckte Bedeutung.

Sie haben bereits Heidegger angesprochen, der in Frankreich einen großen Einfluss hatte, aber nicht in Deutschland …

… glauben Sie das nicht. Heidegger wurde zwar von französischen Philosophen gelesen, weil man es nicht vermeiden konnte. Aber das Publikum weiß nichts über Heidegger. Sie kennen die Silben des Namens. Und wenn ich ihn zitiere, dann nur, weil ich gerade in Deutschland bin.

In Deutschland wurde Heidegger immer abgelehnt.

Der große Nazivorwurf. Aber man muss philosophisch denken. Jemand kann gut und böse zur gleichen Zeit sein, das ist sehr wichtig. Es ist nicht so, dass man, weil manche Stellen mies sind, alles wegwerfen muss. In Frankreich konnte man lange Zeit nicht mal den Namen Freud äußern, weil man mutmaßte, dass er der Bewegung der Frauen geschadet hat. Das ist lächerlich. Ich sagte dann, warum nehmen wir ein Flugzeug? Schließlich haben auch Männer das erfunden. Und es ist ähnlich mit Heidegger. Man muss das Flugzeug nehmen und wissen, was man tut. Sich seiner Verantwortung bewusst sein. Man muss sich nicht damit identifizieren, man muss damit arbeiten. Man nimmt die Elemente, die man braucht, um weiterzugehen.

Glauben Sie an eine neue Moral?

Vielleicht eher Amoral. Der Schlüssel ist Wiederholung. Es gibt nur eine Veränderung von Make-up oder Masken. Das muss man mit Zeit und Erfahrung lernen. Auch wenn man will, dass der Krieg vorbei ist oder zumindest eine Pause herrscht, kommt man zu dem Schluss: Man muss den Kampf fortsetzen, auch wenn man nach vierzig Jahren keine Lust mehr hat.

Wenn Sie an Ihr Konzept der écriture féminine zurückdenken – halten Sie daran fest?

Viele haben mich falsch gelesen. Ich habe niemals gesagt, Männer für Männer, Frauen für Frauen. Als ich den Begriff geprägt habe, sagte ich deutlich: Es ist ein Weg, auf eine Ökonomie aufmerksam zu machen, die für alle verfügbar ist. Und dass diese mit einigen Eigenschaften der Funktionalität von Frauen verglichen werden kann, die ihnen hilft, Rhythmen zu produzieren, die fließend sind. Man kann auch andere Analogien oder Metaphern verwenden. Und natürlich können auch Männer das anwenden. Nur im alltäglichen Leben wird man sehen, sozial gesprochen, dass Männer so formatiert sind, dieses Konzept als gefährlich anzusehen.

Warum lesen die Menschen Sie so falsch?

Weil sie nicht lesen. Und das ist mein hauptsächliches Anliegen. Was ich in meinen Seminaren unterrichte, ist lesen.

Wie unterrichten Sie das?

Lesen ist eine Kunst, der Zwilling des Schreibens. Du kannst keine Literatur schreiben, wenn du nie die Kunst des Lesens praktiziert hast. Literatur ist Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik. Wenn Proust sagte, er würde eine Kathedrale bilden, ist das nicht nur eine Metapher. Je mehr du über die Komposition eines literarischen Werks weißt, desto mehr wirst du es genießen. Ein Text ist voller Geheimnisse. Du musst die Vögel in ihm singen hören, in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit.

Die Menschen lesen eher in einer paranoiden Weise. Sie scannen die Texte nach Schlüsselwörtern?

Sie suchen ihr Inneres, nicht, was der andere zu sagen hat. Das ist Projektion.

Wie kann man dem entkommen?

Indem man Literatur praktiziert. Das ist wundervoll und auch noch billig.

Was beobachten Sie, die Erfahrung oder die Struktur?

Man kann das nicht trennen. Was interessiert uns? Das, was passiert, das Ereignis. Wir sind an dem Unerwartbaren interessiert. Das macht unsere ganze Stärke aus. Niemand beginnt bei der Struktur. Erfahrung bedeutet nicht, etwas abzuholen, was bereits da ist.

Was ist eine Erfahrung?

Als ich in Berlin die Ausstellung „Topographie des Terrors“ besucht habe, kannte ich all das, was ich sah, aber gleichzeitig ist das nicht wahr. Alles dort gehört zu meiner Geschichte, dort ist sogar ein Foto von dem Zug, der meine eigene Familie in Osnabrück deportiert hat. Aber in all dem Altbekannten gab es immer diesen kleinen Rest des Unbekannten. Und an einem Punkt spürte ich, wie bewegt ich war. Ich stoppte, machte Notizen und dachte lange darüber nach, welche Bilder in diesem riesigen Berg von Dokumenten mich am tiefsten berührten. Und warum? Ein Geheimnis. Weil alle Bilder und Dokumente heftig sind. Also muss ich an dieser Erfahrung arbeiten. Es könnte der Beginn einer künstlerischen Arbeit sein.

Sehen sie einen Widerspruch zwischen Kunst und Politik?

Kunst als politische Botschaft ist keine Kunst. Aber Kunst kann politische Konsequenzen haben. Wenn sie der Versuchung, Klischees zu reproduzieren, widersteht. Was schwierig ist. Ein Künstler ist nur insofern ein Künstler, wie er über das, was er weiß und kann, hinausgeht. Er muss der Erste sein, der überrascht ist. Heute geht Kunst mit dem Geld. Wenn du schnell öffentlichen Erfolg hast, heißt das nichts anderes, als dass du gut vermarktbar bist. Ein echter Künstler dekonstruiert den Markt.

Was ist ein echter Künstler?

Das heißt nicht, dass er außerhalb des Marktes, des Systems, steht. Das geht gar nicht. Aber er muss das System Kunst ruinieren. Und das wiederum kann auch nicht einfach eine Entscheidung sein. Er oder sie muss echten Zorn in sich tragen.

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