Heiße Reise im ICE: Heiß, heiß, Baby
Auch die Chefredakteurin der taz saß auf dem Weg zu einer Tagung in einem Hitzezug. Und überlegte, wie eine Notgeburt mit der Nagelschere zu bewerkstelligen sei.
"Bei welchen Temperaturen platzt eigentlich ein Fahrradreifen?" 40 Grad? 50 Grad? Oder müssen es 60 sein? Und wie heiß wird das eigentlich auf dem Asphalt an den nicht überdachten Fahrradständern vor dem Mehdorn-Tempel zu Berlin?
Mit dieser Frage im Kopf schloss ich am Freitag mein Rad vor dem Bahnhof an. Zwei Stunden später verfluchte ich mich, dass ich mich nicht gleich wieder auf den Sattel geschwungen und das Weite in Berlin und nicht in der Ferne gesucht hatte. Zwei Stunden später hatte die Frage plötzlich eine ganz andere Dimension gewonnen: Wie viel Hitze hält eigentlich ein Mensch aus. Also ich. Und gibt es bei Schwangeren so etwas wie ein Ventil? Gibt es so etwas wie eine Temperaturobergrenze, bei welcher ein Körper die Notgeburt einleitet? Also wie bei der Frau drei Sitzplätze weiter vorne im Wagen 26 des ICE 802.
Ines Pohl ist Chefredakteurin der taz.
Ich war beruflich unterwegs. Wie immer, wenn es geht, mit dem Zug. Diesmal Richtung Hamburg.
Es gibt Menschen, die sagen, ich sei hart im Nehmen. Was stimmt: Ich kenne das Gefühl, von Hitze an den Rand gebracht zu werden. Verwandert in einem Geröllfeld auf Korsika. Oder im Sommer der Abstieg zur Phantom Ranch im Grand Canyon. Verrückte Unsterblichkeit mit 21 Jahren.
Das war echt gefährlich.
Die zwei Stunden im ICE ohne Klimaanlage waren für mich wohl nicht real lebensbedrohlich. Und doch ticken Hirn und Körper offensichtlich anders, wenn man erlebt, wie Sommerhitze ein Wunderwerk deutscher Ingenieurskunst aus der Bahn wirft.
Wenn das Vertrauen in diese schwindet, kann eine solche Fahrt bei Tempo 230 im eingeschlossenen Raum ganz schön lang sein.
Wie oft zu Beginn von Krisensituation gibt es zunächst ein Momentum der Vergemeinschaftung. Man klagt. Dass der Zug ja sowieso schon über eine Stunde Verspätung hat. Der Wettbewerb zur schlimmsten Reisepanne ist eröffnet. Ich beneide meine Nebensitzerin, die einen Fächer in beruhigendem Grün in den Händen hält.
Zweimal schon ist die schwangere Frau an mir vorbeigegangen. Beim dritten Mal frage ich, ob ich ihr etwas bringen soll.
"Geht noch."
Auf ihrer Nase türmen sich dicke Schweißperlen. Unter ihren vollen Brüsten wachsen dunkle Flecken, das helle Blau des Shirts wird schwarz. Ganz vorne im Abteil wimmert ein Baby. Die Nerven einer Mutter liegen blank. "Lass das endlich, Lena!!!"
Lena weint. Die blonden Haare kleben am Kopf, als sie an meinem Sitz weinend vorbeirennt. Alles klebt.
Sechster Monat? Siebter? Trotz mieser Internetverbindung gelingt es mir, zu recherchieren, ob meine Nagelschere im Falle eines Falles reichen würde. Onlinegeburtskurs im Hochgeschwindigkeitszug.
Die Welt draußen braust an uns vorbei und könnte unerreichbarer nicht sein. Später werde ich lesen, dass eine andere Schwangere in einem anderen ICE versucht haben soll, ein Fenster mit einem Hammer einzuschlagen.
Die schwangere Frau fasst sich immer wieder an die Stirn und legt die Hand auf ihr Dekolleté. Sollte man mal nach einem Arzt fragen? Wo, verdammt, sind die Schaffner? Ich löse mich von meinem Sitz. Wann wird Anteilnahme eigentlich zur Hysterie?
Ich gehe zu der Frau und frage, ob ich ihr etwas zu trinken holen soll. Sie nickt.
Nach einigem Gezeter und Generve kommen Servicekräfte mit Getränken an die Plätze. Nicht in allen Abteilen sei die Klimaanlage ausgefallen. Aber überall sei es sehr voll. Die Schwangere macht sich auf. Und kommt nicht zurück.
Hätte sie ein Fenster eingeschlagen, hätte man das wohl mitbekommen. Wir harren aus. Das genüssliche Motzen über die deutsche Bahn ist verstummt. "Absurd", sagt die Frau neben mir. "Das ist doch absurd." Deutsche Technik schickt Bilder vom Mars und wir sind hier kurz vorm Hitzschlag.
Irgendwann, viel später, saugen wir gierig die nach Bremsbelägen schmeckende Luft des Hamburger Bahnhofs ein. So gut kann Freiheit schmecken.
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