Heidegger, Benjamin und Wittgenstein: In Zeiten der Verwirrung
Was ist der Mensch? Wolfram Eilenberger seziert das vielleicht wichtigste Jahrzehnt der deutschen Geistesgeschichte.
Es gilt ein Buch vorzustellen, das auf lange Zeit seinesgleichen suchen wird. „Philosophie“, so hat es einmal Hegel geschrieben, „ist ihre Zeit, in Gedanken gefasst“ – ein Umstand, dem zwar so sein mag, dem aber die meisten PhilosophInnen immer weniger gerecht werden. Anders Wolfram Eilenberger, ehemaliger Chefredakteur des Philosophie Magazins und Ballsportler, dessen soeben erschienenes Buch „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929“ diesem Anspruch gerecht wird wie kaum ein geistesgeschichtliches Werk, wie kein Text der intellectual history.
Der Autor wusste genau, warum er vor Erscheinen seines Buches in einer großen deutschen Wochenzeitung die akademische Philosophie in geradezu maßlosem Ton angriff. „Was“, so Eilenberger in der Zeit vom 1. März, in akademischen, fachphilosophischen Journalen „abgehandelt wird, interessiert keinen Menschen (…) ja, es interessiert nicht einmal die Verfasser(innen) selbst, die in den potenziell kreativsten Phasen ihrer Denkbiografie gehalten werden (…) zu vorgestanzten Fragen in vorgestanzter Sprache in das absolute Nichts hineinzuproduzieren.“
Eilenbergers spannend geschriebener Ideenroman jedoch schildert Leben und Begegnungen von vier zwischen 1874 und 1889 geborenen Männern, die in den Jahren zwischen 1919 und 1929 einander zur Kenntnis nahmen, partiell in Kontakt kamen und sich auch bekämpften – es geht um Leben und Denken von vier Philosophen.
Aber was ist Philosophie – jedenfalls aus der Perspektive jener, die sie tatsächlich betreiben und nicht nur beobachten? Philosophie war und ist zunächst der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, was, so Immanuel Kant, der Mensch sei oder – mit Blick auf das eigene Leben – was es überhaupt heißen kann, ein sinnvolles, ein gutes, vielleicht sogar ein gelungenes Leben zu führen.
Heidegger und Wittgenstein
Die 1889 geborenen Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein gelten gemeinhin als Antipoden: Während jener auf die angstgetriebene Grundlosigkeit der menschlichen Existenz hinweisen wollte, ging es diesem „nur“ um die Frage, was überhaupt sinnvolle Sätze sein können.
Wurde Heidegger zum Begründer der Existenzphilosophie, so wurde und wird Wittgenstein als Begründer der sich wissenschaftlich gerierenden analytischen Philosophie missverstanden – und war dabei doch nur ein verstörter Einzelgänger, der, anders als Heidegger, gerade keine akademische Karriere machen wollte, sondern sich als prügelnder Volksschullehrer durchschlug.
Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929“. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2018, 431 Seiten, 25 Euro
Indem Eilenberger den Denkentwürfen der beiden gleichaltrigen Männer in ihren biografischen Kontexten nachgeht – eines aufstrebenden katholischen Kleinbürgers hier und eines seine Klasse verratenden Wiener Großbürgersohns dort –, zeigt sich das Bild einer Epoche, die der unseren verblüffend ähnelt: „Auch die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts begreifen sich“, so Eilenberger, (…) als eine Dekade nie da gewesener, weltverändernder Innovationen (…) Man bezeugt die Geburt des globalen Kommunikationszeitalters aus dem Geiste einer sich als rasend ankündigenden technischen Innovation. Bis in unser heutiges Zeitalter.“
Radikal oder vernünftig
Das schlug sich auch im Leben zweier Abkömmlinge des deutschjüdischen Bürgertums nieder, nämlich des 1874 geborenen Ernst Cassirer und des 1892 geborenen Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im spanischen Port Bou Suizid beging. Walter Benjamins Lebenslauf ist geprägt von wechselnden erotischen Beziehungen, Drogen und seiner politischen Haltung „Immer radikal, niemals konsequent“ und verkörpert gleichsam, so Eilenberger pointiert, die Krise der Weimarer Republik in einer Person.
Ernst Cassirer wiederum, der sich 1929 in Davos, im Gebirge Graubündens, mit Martin Heidegger einen berühmten Disput liefern sollte, lebte als Inbegriff der Vernunft. Er stellte sich die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht direkt, sondern in der Nachfolge Kants so, dass er wissen wollte, mit welchen Mitteln, also symbolischen Formen menschliches Leben seinen Ausdruck fand und findet. Cassirer nahm mithin keine radikale Teilnehmer-, sondern eine Beobachterperspektive ein.
Genau das ermöglichte es ihm, zum Inbegriff politischer Vernunft in Zeiten der Verwirrung und des Niedergangs zu werden: Cassirer „ist“, so Eilenberger, „strahlkräftiges Symbol einer liberalen, republikanischen Haltung, die unter den deutschen Geistesgrößen der damaligen Zeit durchaus nicht selbstverständlich ist. Nicht zuletzt ist er (…) als weltweit geachtete Autorität in Bezug auf die Werke Kants wie Goethes eine der Galionsfiguren eines deutsch-jüdischen Patriotismus.“ Seinem letzten Werk, er publizierte es nach seiner Emigration in die USA 1946, gab er den Titel „The Myth of the State“ („Mythos des Staates“).
Zu Hitler bekennen oder über die Zukunft grübeln
Sechzehn Jahre früher standen sich der sportliche, jugendbewegte Heidegger und der kränkelnde Großbürger Cassirer in den Graubündner Alpen verständnislos gegenüber; 1933 bekannte sich der schon 1929 antisemitisch gestimmte Heidegger emphatisch zu Hitler, während Walter Benjamin, der Heideggers Arbeiten durchaus zur Kenntnis genommen hatte, auf Ibiza weilte und über seine Zukunft grübelte.
Ludwig Wittgenstein, genialer Denker und gescheiterter, prügelnder Lehrer, philosophierte in Cambridge bewundert, aber an der Armutsgrenze, während dem Juden Ernst Cassirer 1933 der Lehrstuhl entzogen wurde.
1924 publizierte Thomas Mann seinen in einem Davoser Sanatorium spielenden Roman „Der Zauberberg“, einen Bildungsroman, in dem sich der liberale, humane Settembrini und der fanatisch radikale Naphta erbitterte Kämpfe um Zustimmung und Zuneigung des Bürgersöhnchens Hans Castorp liefern. Wolfram Eilenbergers „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929“ versetzt uns Leserinnen und Leser in die Rolle Hans Castorps.
Atemlos gespannt und immer wieder zum Nach-Denken angeregt, werden wir Zeugen eines Dramas, das uns wie ein Krimi fesselt und zum Verständnis unserer Gegenwart mehr beiträgt als so manche soziologische Studie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus