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Haut- und fußkrank

Der Krieg von Grosny zeigt: Rußlands Armee ist gespalten, Stütze einer Dikatur kann sie so nicht sein  ■ Von K.-H. Donath

Der Bericht ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. „Mechaniker und Panzerfahrer“, so war letzte Woche in der Obschaja Gaseta zu lesen, „haben schwache Kenntnisse in der Handhabung und Lenkung von Kriegstechnik. Richtkanoniere kennen weder Gefechtsregeln noch das Schießen auf bewegliche Objekte“. In sage und schreibe 65 Einzelpunkten listete der anonyme Autor des Papiers, das aus den „höchsten Militärkreisen“ der Zeitung zugespielt wurde, die Fehler und Versäumnisse des Tschetschenien-Feldzuges auf. Und auch sein abschließendes Urteil ist eindeutig: „Planung und Vorbereitung der Operation wurden oberflächlich durchgeführt, was nicht zu rechtfertigende Verluste nach sich zog.“

Der Krieg bestätigt, was viele schon lange vermuten: Die einstmals gefürchtetste Armee der Welt hat schwer mit sich zu kämpfen. Der Abgang aus Afghanistan erregte bereits erste Zweifel, ob Rußlands „bestes Stück“ das Attribut tatsächlich verdiene. Der Rückzug der Armee aus Osteuropa hat die Militärs zudem vor ungeheure Probleme gestellt: die Unterbringung und Versorgung von fast zwei Millionen rückkehrenden Dienstleistenden. Jede Streitkraft wäre damit über Gebühr strapaziert, ihre Einsatzbereitschaft im Ernstfall eingeschränkt.

Viele dieser Probleme lassen sich mit der fehlenden finanziellen Ausstattung erklären, nur 60 Prozent des geforderten Etats wurden den Militärs letztes Jahr zugebilligt. Doch wie soll man es begreifen, wenn nun einfache Wehrdienstleistende ohne Kennungsmarken in die Schlacht geschickt werden, ihre Leichen sich daher nicht identifizieren lassen, Soldaten keine angemessene Verpflegung erhalten, sich tagelang nicht waschen können, so daß Haut- und Fußkrankheiten um sich greifen? Präsident Jelzin war über den katastrophalen Zustand seiner Armee bestens im Bilde. Auf einer Kommandeurstagung im November sprach er selbst die grundlegenden Schwierigkeiten an. Dennoch schreckte er nicht zurück, mit einem Blitzkrieg sein angeschlagenes Image aufzufrischen.

Bereits vor dem Krieg stellte die Generalität keinen homogenen Korpus dar. Wahrscheinlich wird nie ganz klar werden, mit welchen Mitteln Boris Jelzin im Oktober 1993 Verteidigungsminister Pawel Gratschow überzeugte, die Armee gegen das rebellische Parlament zu schicken. Nun dürften skeptische und abwartende Militärs eher die Seite der Jelzin-Gegner stärken. Welche Zweifel in den Echelons der Macht vor der Operation geherrscht haben mußten, belegt allein der Umstand, daß das Kollegium des Verteidigungsministeriums in die Planungen nicht mit einbezogen wurde. Man wollte sich den Traum vom Sieg von mahnenden Kritikastern im Vorfeld wohl nicht verderben lassen.

Diese Mahner kamen ausgerechnet aus der Ecke jener Militärs, denen man bisher weder Zimperlichkeit noch pazifistische Bestrebungen nachsagen konnte. Besonders tat sich der General Alexander Lebed hervor, der die 14. Armee in Transnistrien befehligt. Äußerlich einem Landsknechtführer ähnlich, mit einem Hang zu derben Worten, genießt er in den Rängen der Armee außerordentliche Popularität. Er weigerte sich schon mal – wie im Frühherbst 1994 –, den ehemaligen Stellvertreter Gratschows und Kommandeur der Westtruppen, Matjeew Burlakow, als Inspekteur in seiner Einheit zu empfangen. Burlakow stand unter massivem Korruptionsverdacht. Mit so einem Ganoven wolle er nichts zu tun haben ...

Lebed verkörpert beileibe keine demokratischen Tugenden, noch dürfte er frei sein vom Bazillus des russischen Imperialgehabes, aber er ist ein treffsicherer Populist: Er bot sich an, entweder die Truppen aus Tschetschenien herauszuführen oder Grosny zu stürmen, allerdings – so seine Bedingung – mit den Söhnen aus Jelzins Sicherheitsrat, der Administration des Präsidenten und jenen Hurrakrakeelern aus dem Parlament. So etwas verfehlt seine Wirkung nicht. Denn Rußlands Armee ist zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine wirkliche Arbeiter- und Bauernstreitmacht. Ganze 19 von 100 Wehrpflichtigen kamen letztes Jahr der Aufforderung zum Armeedienst nach, jene, deren Eltern sich die Kosten eines Freikaufs nicht leisten können. In der Provinz kostet er umgerechnet 5.000, in den großen Städten zwischen 10- und 15.000 Mark. Studenten sind ohnehin freigestellt. Auch diese Entwicklung erklärt den niedrigen Ausbildungsstand und die geringe Kampfmoral der Truppen von Grosny.

Um den Widerstand der Generäle zu brechen, versucht der Kreml sie auseinanderzudividieren. Jelzins Generalstaatsanwalt Alexei Iljuschenko kündigte an, Verfahren wegen Befehlsverweigerung gegen ranghohe Offiziere zu eröffnen. Einer von ihnen ist Drei-Sterne- General Eduard Worobjew. Er wurde telefonisch von Gratschow beauftragt, einen erkrankten General zu ersetzen, machte sich ein Bild vor Ort und entschied, wegen mangelnder Vorbereitung, die Operation nicht zu übernehmen. Um sich zu retten, behauptet er jetzt, nie einen Befehl erhalten zu haben.

Die Generalität, die sich widersetzt, macht das nicht allein aus moralischen, humanitären oder gar altruistischen Motiven. Lebed verfolgt selbstverständlich persönliche Ziele. Gerne wäre er Verteidigungsminister. Wenn Lebed den Widerstand in Tschetschenien als „Befreiungskampf für Haus und Hof“ charakterisiert, legitimiert er offen das Handeln des Gegners und klagt die Regierung des Verbrechens an.

Hier wird es brenzlig für die Machthaber im Kreml, während die Gesellschaft eher beruhigt sein darf: Ein totalitäres Regime läßt sich schwerlich auf eine Armee stützen, die über ein derart breites Meinungsspektrum verfügt. Eine Diktatur setzt Konsens und ausreichende Ressourcen voraus, um eine Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Voraussetzungen sind in Rußland nicht gegeben.

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