Hausbesuch bei Künstler Waleed Ibrahim: „Familien hier sind oft verstreut“
Er ist Kurde und wächst in Rojava auf. Er studiert in Damaskus, sucht sein Glück in Dubai – und landet in Willich, einer Kleinstadt am Niederrhein.
Für Waleed Ibrahim ist Kunst Heimat. Und zwar deshalb, weil sie ihn, ganz egal an welchem Ort er sich aufgehalten hat, Zeit seines Lebens und über Grenzen hinweg begleitet hat.
Draußen: Eine Eisentreppe führt auf die Terrasse. Zwischen den Steinplatten wachsen wilde Erdbeeren. Von der Terrasse aus fällt der Blick auf einen Parkplatz. Willich, eine Kleinstadt am Niederrhein, ist für sein Gewerbegebiet bekannt, aber die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist mäßig. Ein stillgelegter Bahnhof befindet sich nicht weit vom Zentrum. Im Ortskern steht eine Kirche aus Klinkersteinen. Schützenfest und Karneval sind jährliche Höhepunkte. Man kennt sich, weil Eltern und Großeltern sich kannten. Wer hier aufwächst, bleibt. Oder geht. Waleed Ibrahim aber ist gekommen.
Drinnen: „Meistens bin ich im Atelier und arbeite“, sagt er. Waleed Ibrahim ist 56 Jahre alt und Künstler. Sein Atelier ist nur wenige Gehminuten von seinem Zuhause entfernt. In der kleinen Wohnung mit Dachschrägen leben vier Menschen. Er und seine Frau Jiana schlafen auf dem Sofa. „Damit die Kinder ihr eigenes Zimmer haben“, sagt Ibrahim. Ein aufgespanntes Tuch trennt Küche und Wohnzimmer. Rosa Tulpen stehen auf dem Tisch. Ibrahims Ölbilder hängen an der Wand. Die Bilder zeigen Menschen. Ob das die Familie ist? Ibrahim verneint.
Gastfreundschaft: Wer bei Waleed Ibrahim zu Gast ist, wird umsorgt. Das gehört zum guten Ton und bezeugt Wertschätzung. An diesem Nachmittag gibt es schwarzen Tee und Sesamkuchen, getränkt in Zitronenzuckerwasser. Auf Gastfreundschaft legt Ibrahim viel Wert, auch in seinem Atelier. Stehen Menschen an der Schwelle des Eingangs, werden sie von Ibrahim hineingewunken. Er bietet ihnen dann eine Tasse Kaffee oder manchmal auch eine Zigarette an. Für die Kinder gibt es Süßigkeiten.
Das Atelier: Früher war es ein Blumengeschäft. Seit 2019 hängen Bilder an den Wänden. Der Name der „Art 101 Gallery“ verbindet Ibrahims altes und neues Leben. „Art 101“ hieß Ibrahims Atelier in Dubai. Überall Bilder, Farben, Leinwände. Auf dem Tisch der Sofaecke steht eine Vase mit bunten Gartenblumen. Beate Krempe hat sie dort hingestellt. Das Atelier führt Ibrahim mit ihr gemeinsam, aber nur er nutzt es als Ort zum Malen.
Heimat: Waleed Ibrahim wächst mit zehn Geschwistern in der syrischen Stadt Amuda auf. Die Kleinstadt nahe der syrisch-türkischen Grenze ist arm und liegt in Westkurdistan, in Rojava. Bis zum Beginn des Bürgerkrieges steht die Region unter Verwaltung des syrischen Staates. Seit 2012 wird das Gebiet durch die kurdische Partei PYD kontrolliert, einer Schwesterpartei der türkischen PKK. Da ist Waleed Ibrahim schon in Dubai.
Studium: Eigentlich ist sein Wunsch, Kunst zu studieren, kein realistischer. „Nicht als Kurde. Das ist nicht erlaubt.“ Er bewirbt sich trotzdem und hat Glück. Der bekannte syrische Künstler Fatih al-Moudarras ist von Ibrahims Bewerbungsmappe überzeugt und setzt sich für seine Aufnahme an der Akademie der Künste in Damaskus ein. „Die konnten dann nichts machen. Sie mussten mich nehmen.“ Ibrahim ist der einzige Kurde an der Akademie. „Ich war alleine.“ Fünf Jahre später erhält er sein Kunstdiplom mit Schwerpunkt in der Ölmalerei.
Dubai, das Labor: Um sich dem Militärdienst zu entziehen, verlässt Ibrahim Syrien. Sein Ziel ist Dubai. Die heutige Metropole der Vereinigten Arabischen Emirate befindet sich im Entstehungsprozess, als sie 1989 seine neue Heimat wird. „Damals war das ein armer Platz. Das war Wüste.“ In Dubai gestaltet er als Künstler die Innenbereiche von Gebäuden, gründet eine Firma für Innenausstattung, unterrichtet Kunst und stellt aus. „Wenn du viel Geld hast, kannst du dort gut leben. Aber als Künstler ist es schwierig.“ Schließlich bleibt er 25 Jahre, heiratet und wird Vater von zwei Kindern. Die Stadt gefällt ihm immer weniger. „Die ist immer künstlicher geworden. Ein Labor.“
Kurdischsein: In Ibrahims Leben spiegelt sich die Problematik der Kurd:innen wieder. In Syrien darf er in der Öffentlichkeit kein Kurdisch sprechen; sein Volk wird marginalisiert. Auch das mit den Papieren ist schwierig. Sein syrischer Pass, „der ist nichts wert“, sagt er. Hinzu kommt die Diskriminierung. Als kurdischer Künstler wird er in Syrien nicht akzeptiert. Und in Dubai kann er mit seiner Kunst zwar Geld verdienen, bekommt aber kein dauerhaftes Bleiberecht. Seine Aufenthaltserlaubnis muss er alle drei Jahre verlängern lassen. „Syrien habe ich in den 25 Jahren nur ein einziges Mal besucht.“ Zurückkehren kann er aufgrund des verweigerten Militärdienstes nicht, zu groß ist die Gefahr, festgenommen zu werden.
Für die Kinder: Obwohl das Leben in Dubai gut ist, ist es nicht frei. „Ich habe dort keine Zukunft mehr gesehen. Nicht für die Kinder.“ Ibrahim hat Familie in Deutschland, unter anderem zwei Geschwister. „Die wohnen schon seit 35 Jahren hier.“ Also zieht seine Frau Jiana 2015 mit den Kindern nach Deutschland, Ibrahim folgt ihnen 2016. Kurz hält er inne. „Ja, für die Kinder.“
Sprache: Mit der Sprache tut sich Ibrahim noch etwas schwer. Meistens spricht er eine Mischung aus Deutsch und Englisch, sagt er. So wie jetzt, in diesem Gespräch. Das funktionierte bislang. Mit seinen Kindern spricht er Kurdisch. Und beim Kunstunterricht? Das sei eine Sprache für sich, antwortet er.
Kunstfreiheit: Auch die Kunst ist in Dubai nicht frei, sondern wird durch die Religion und durch Traditionen begrenzt. „Am liebsten hätte ich die Politik kritisiert. Aber das ging nicht. Ich musste immer Abstraktes malen.“ So vermeidet er Konflikte mit dem Gesetz. Seit seiner Ankunft in Deutschland hat sich seine Kunst verändert. Seine Bilder sind politischer geworden. Sie sprechen nun von Krieg, kurdischem Leben, der Coronapandemie und von gesellschaftlicher Spaltung.
Entwurzelt: Wenn Menschen hören, dass er 2016 nach Deutschland kam, denken sie oft, er sei vor dem Krieg in Syrien geflohen. Dabei kam er aus Dubai und war schon seit Jahren entwurzelt. Das Herz schmerzt trotzdem, schließlich hat er noch Familie in Syrien.
Ankunft: Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Deutschland trifft Ibrahim die Künstlerin Beate Krempe. Sie führt in Willich das „Art Together“, ein Dialog-Atelier, das von Künstler:innen mit und ohne Fluchtgeschichte als ein Vernetzungs- und Arbeitsort genutzt wird. Ibrahim erfährt von dem Projekt, setzt sich in den Bus und steigt in Willich aus. Er bleibt – und zieht mit seiner Familie von Mönchengladbach in die Kleinstadt.
Freundschaft: Beate Krempe wird Ibrahims Ansprechpartnerin, wenn es um Kunst im neuen Land geht. „Was macht ein Künstler in Deutschland?“, fragt er sie damals. Sie nimmt ihn zu ihren Projekten mit. Bald schon haben sie gemeinsame. Sie thematisieren Flucht, Demenz, Menschenrechte, Würde. Aus der Arbeitsbeziehung entsteht eine Freundschaft. Krempe beschreibt Ibrahim als einen „absoluten Menschenfreund“, der „weiß, was er braucht und was er will“, wie sie sagt. Er dagegen meint: „Das ist nicht gut, wenn ich hier über sie spreche. Sie sitzt doch neben mir.“ Er schweigt kurz und sagt dann doch: „Beate ist meine engste Freundin in Deutschland.“
Farben und Kontraste: Wer sich im Atelier umschaut, wird zwei Arten von Bildern finden: Farbenfroh-kontrastreiche oder Bilder in Schwarz-Weiß. Meist zeigen sie Menschen. Hinten im Raum liegen die Acryl-, vorne die Ölfarben. „Die Ölfarben sind nicht gesund.“, sagt Ibrahim, „die Dämpfe.“ Mittlerweile nutzt er sie seltener.
Raum und Zeit: Für einige Bilder benötigt er Jahre, andere malt er in wenigen Tagen oder Wochen. „Wenn ich in der richtigen Stimmung bin, ist es einfach.“ Manchmal aber auch nicht. „Dann ändere ich sie häufig.“ Er hat verschiedene Malplätze im Atelier. So kann er zwischen den Projekten wandern und verbeißt sich nicht. „Das will ich übermalen“, sagt Waleed Ibrahim und zeigt auf das graue Doppelporträt eines bärtigen Mannes. Eigentlich malt er keine Männer, nur Frauen „Um sie zu stärken“, sagt er.
Geld und Gemeinschaft: „Ich bin immer im Atelier.“ Dort gibt er auch Kunstunterricht – für Kinder oder Erwachsene. „Da ist die Sprache dann egal.“ Dass er von seiner Kunst nicht komplett leben kann, stört ihn nicht. Dafür malt er Benefizbilder und spendet das Geld für Menschen in der Ukraine. „Ich denke nicht so viel über Geld nach. Ich habe viel Geld in meinem Leben gesehen.“ Die Familie sei das Wichtigste. „Familien hier sind oft sehr verstreut. In Dubai war das Haus immer voll. Hier ist das anders.“
Glaube ohne Religion: „Ich respektiere Menschen, die an etwas glauben. Dann tun sie meistens keine bösen Dinge.“ Welcher Religion sich die Menschen dann zugehörig fühlen, sei für ihn Nebensache. „Ich glaube an Gott, aber nicht an Religion.“ Viele hätten ohnehin einen gemeinsamen Ursprung „Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit sind wichtig.“ Glaubt er an Karma? „Vielleicht“, sagt Ibrahim. Die Politik, sagt er, habe die Religion ersetzt.
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