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Hausbesuch Als Kriegsgefangener fuhr Ernst Ulich mit einem Luxusschiff nach New York, als Lehrer arbeitete er in Äthiopien und dem Iran. Mit 94 verteilt er immer noch Flyer„Schwach zu sein hat mich gerettet“

von Luciana Ferrando (Text) und Marie Sommer (Fotos)

Zu Besuch bei dem Tierrechtler Ernst Ulich in Berlin-Lichterfelde.

Draußen: Erker, Türmchen und Wetterhähne in der Baseler Straße. Dorfgefühl am Karfreitag: Bis auf zwei Kinder, die „Polizei! Polizei!“ rufen, ist die Straße menschenleer. Einige Hundert Meter davon entfernt, in einer kopfsteingepflasterten Allee, wohnt seit mehr als 30 Jahren Ernst Ulich. Ein dreistöckiges Wohnhaus, umgeben von Villen mit blühenden Vorgärten und ornamentalen Zäunen.

Drinnen: Zwischen persischen Teppichen, Fotos aus Äthiopien und dem Iran und Familienporträts aller Generationen tickt eine Kuckucksuhr. Alte Karten, Zeitungsausschnitte, Notizen tapezieren die Wände des kleinen Wohnzimmers. Im Flur hängen Instrumente aus aller Welt, auf der Fensterbank stehen äthiopische Holzfiguren. Eine Schreibmaschine, ein Kunstwerk aus Kernen und Samen. Papierstapel dokumentieren Ernst Ulichs 94 Jahre langes Leben.

Zufälle: Ulich zeigt als Erstes sein Lieblingsbild: 1926 in Dresden, er posiert als vierjähriger Schaffner mit Teddybär. Als Kind hatte er eine Leidenschaft für Straßenbahnen. Die Uniform bekam er von seinen Eltern zum Geburtstag. „Wenn die Welt heile geblieben wäre, wäre ich Bauingenieur geworden. Aber der Krieg hat alles geändert“, sagt er. 1939 wurde er für den Zweiten Weltkrieg gemustert. Dass er später in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba Deutsch lehren, in Teheran eine deutsch-iranische Schule gründen und als engagierter Tierrechtler ausgezeichnet werden würde, hätte er sich damals nicht vorstellen können. „Auf was für Zufällen baut sich ein Leben!“, sagt er. „Ich hatte immer Glück, oder, Helga?“, fragt er seine langjährige Begleiterin. „Riesiges Glück.“

Das erste Glück: „Sie sind zu dürr und zu schwach, um Soldat zu werden“, sagten die Wehrmachtärzte, als Ulich 17 war. An die Untersuchung erinnert er sich bis heute. „Ich stand da nackt und hatte Angst.“ Er wurde zurückgestellt und durfte nach Hause gehen. „Das war mein erstes großes Glück. Schwach zu sein hat mich gerettet.“ 1941 bestand er einen zweiten Gesundheitstest und wurde in die Flugabwehr eingezogen. Zuerst ging es nach Wien, in den kalten Winter, dann in die nordfranzösische Stadt Cherbourg, wo er zur Funkabteilung wechselte. Im Pech habe er wieder Glück gehabt: „Ich musste nie schießen, in Frankreich gab es nichts zu tun.“ Viermal war er auf Heimaturlaub in Dresden, oft auch in Paris. Sein schönster Tag in „der schönsten Stadt der Welt“: Aida, Tosca und das philharmonische Orchester, „drei großartige Konzerte auf einmal habe ich mir angeguckt“.

Musik: War und ist seine große Liebe. „Musik ist alles“, sagt er und summt Beethovens „Appassionata“. Fünf Jahre lang hatte Ulich Klavierunterricht, aber: „Ich bin zu faul.“ „Nein, du bist wunderbar“, sagt Helga, die mit seiner Unterstützung Musikpädagogin geworden ist. „Ich bin völlig ohne Fantasie, das ist mein Geburtsfehler“, sagt Ulich. Dafür habe er ein musikalisches ­Ohr, dank dem er 1944 als Funker tätig war, als die Alliierten in der Normandie landeten.

Gefangen: „Alles ging ganz schnell“, sagt Ulich. Kurz nach dem D-Day wurde er als Kriegsgefangener nach Schottland gebracht und von dort nach Amerika. „Ich konnte es nicht glauben, wir reisten mit der ‚Queen Mary‘, einem Luxusschiff. Wir kamen in New York bei Sonnenschein an. Das Wasser war spiegelglatt, ich sah die Freiheitsstatue und war beeindruckt.“ Ein Jahr war er im Gefängnis in North Carolina. Er durfte seinen Eltern schreiben, er sei am ­Leben, das Essen fand er gut. „Dreimal hatten wir Brathähnchen, so was gab es nie zu Hause.“

Zweites Leben: Zurück in Deutschland, wollte Ulich weiterstudieren. Doch er bekam keinen Platz in Dresden und war „orientierungslos“, bis er seinen ehemaligen Lehrer traf. „Du solltest Neulehrer werden, die werden dringend gebraucht“, sagte der. Neulehrer wurden damals von den Alliierten eingesetzt. 1947 stand er das erste Mal vor einer Klasse, zwei Jahre später zog er mit seinem jüngeren Bruder nach Berlin, um Lehramt zu studieren. Er konnte Englisch, sein Bruder Russisch. Beide zogen nach Westberlin, bevor die Mauer gebaut wurde. „Noch ein Glück, dass wir nicht getrennt wurden.“

Ausland: An der Ostsee lernte der junge Lehrer eine junge Lehrerin kennen. Sie heirateten und bekamen drei Töchter. Erika – „meine Frau Erika“, sagt Ulich, auch wenn sie voneinander getrennt leben – bekam das Angebot, in Moskau Deutsch zu unterrichten. „Egal wohin, aber nicht nach Moskau“, fand Ulich. Das Paar bewarb sich für Chile und kam nach Äthiopien. 1964 hatte Ulich seine erste Klasse in Addis Abeba. „Was halten diese Kinder von Schnee und Osterhasen?“, fragte er sich und verlegte dann eigene Lern- und Lesebücher mit lokalen Geschichten. In der Freizeit reiste die Familie durchs Land. „Ich kenne Äthio­pien besser als viele Äthiopier und besser als Deutschland“, sagt er. 1971 zog die Familie nach Teheran, wo er die deutsche Grundschule leitete und eine deutsch-iranische Schule aufbaute. Mit der Islamischen Revolution war alles vorbei. Fernweh spürt er manchmal noch. Ulich sagt, „wenn man einmal im Ausland war, will man immer wieder weg“. Mit 89 besuchte er das letzte Mal Freunde in Äthiopien.

Tier und Mensch:Während eines Familienurlaubs in den Alpen entdeckte Ulich dank seiner Tochter eine neue Leidenschaft. Als der Bauer eine Maus zertreten wollte, rastete die vierjährige Karin aus. „Wir wussten, dass sie Tiere mochte, aber da merkten wir dann, es steckt mehr in ihr.“ Für ihn war es ein Lernprozess. „Mit umweltfreundlicher Ernährung hatte ich mich davor noch nie auseinandergesetzt“, sagt er. Karin wurde Tierärztin und engagierte sich in einem Verein gegen Tierquälerei. Der Vater wollte helfen und blieb dann viele Jahre im Vorstand. „Als es dort krachte, gründeten wir unseren eigenen Verein.“ Tier & Mensch e. V. kämpft vor allem gegen Massentierhaltung, aber auch gegen Tierversuche und gegen die Ausbeutung von Tieren im Allgemeinen. Ulich ist bis heute Geschäftsführer.

Glücklich:„Glücklich sein ist etwas anderes, als Glück zu haben“, sagt er. „Ich hatte viel Glück in meinem Leben, aber ich sage nicht: ‚Ich bin glücklich.‘ Ich sage: ‚Ich bin dankbar.‘ Oder, Helga? Wir sind dankbar.“ Stolz fühle er sich hingegen oft. Zum Beispiel wenn er am Ende des Tages einen Stapel Flyer von Tier & Mensch e. V. losgeworden ist. Das sei seine Art, politisch aktiv zu bleiben.

Merkel oder Schulz? Martin Schulz kenne er nicht gut. Aus der SPD, sagt Ulich, sei er schon lange ausgetreten. Merkel vergleicht er mit Martin Luther: „Man mag mit den Ideen der beiden nicht einverstanden sein, aber man muss anerkennen, sie haben Geschichte gemacht, sie sind einfach wichtige Persönlichkeiten“.

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