Hartz IV-Sätze: Mißfelder lehnt Entschuldigung ab
Mehr Hartz IV ist Anschub für Schnapsindustrie: JU-Chef Mißfelder will mit dem Satz nur das Wohl armer Kinder im Blick gehabt haben.
BERLIN taz Philipp Mißfelder hat es wieder geschafft. Der Vorsitzende der Jungen Union hat am vergangenen Wochenende mit seinen umstrittenen Äußerungen über die Lebensgewohnheiten von Hartz-IV-Empfängern eine politische Debatte angestoßen. Besonders überraschend dabei: Neben Kritik erntet das CDU-Präsidiumsmitglied auch unerwartete Zustimmung.
Mißfelder hatte, wie erst am vergangenen Freitag bekannt wurde, vor einer Woche beim Frühschoppen des CDU-Ortsverbandes Haltern in Nordrhein-Westfalen gesagt: "Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie." Der 29-Jährige bezog sich dabei auf die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder ab dem kommende Juli. Die Linkspartei forderte Mißfelders Rückzug aus der Politik, der Sozialverband Deutschland kritisierte die Lebensferne der Äußerung. Ähnlich klang die Kritik der Jungsozialisten und der Gruppe der ostdeutschen SPD-Abgeordneten im Bundestag.
Am vergangenen Wochenende erhielt der JU-Chef nun überraschend Unterstützung. Der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Georg Ehrmann, erklärte: "Es ist gut, dass eine solche Aussage gemacht wird, damit eine Debatte angeregt wird." Beim Thema Kinderarmut werde zu viel über Geld geredet. Dabei gehe die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe unter. In Deutschland lebten 2,1 Millionen Kinder in Haushalten von Alkoholikern.
Dieses Argument griff Mißfelder sogleich in einem Interview mit der Bild-Zeitung auf: "Mir geht es darum, dass die Kinder nicht unnötig unter der aktuellen Lage ihrer Eltern leiden. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass die staatliche Unterstützung für Hartz-IV-Empfänger auch wirklich bei ihren Kindern ankommt." Mißfelder sprach sich erneut dafür aus, Bedürftigen Gutscheine statt Geld zu geben, etwa für Schulspeisung, Nachhilfeunterricht oder Sport.
Vergleichsweise milde klang die Schelte von Otto Wulff, dem Vorsitzenden der Senioren-Union. Eine Entschuldigung sei angebracht. "Herr Mißfelder muss das aber selbst wissen. Dazu ist er Manns genug." 2003 hatte Mißfelder für Empörung gesorgt, als er sagte, er halte nichts davon, "wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen". Der JU-Chef bat damals um Entschuldigung und ging später sogar eine taktische Zusammenarbeit mit der parteiintern mächtigen Senioren-Union ein. Auch ihrer Unterstützung verdankte Mißfelder Ende 2008 die Wahl zum jüngsten Mitglied des CDU-Präsidiums. Seit 2005 sitzt der gebürtige Gelsenkirchener im Bundestag.
So glimpflich will das Erwerbslosen-Forum Deutschland Mißfelder diesmal nicht davonkommen lassen. Forums-Sprecher Martin Behrsing erklärte: "Wir laden Herrn Mißfelder ein, dass er sich bei uns einmal die tägliche Arbeit in den Problemen mit Armut durch Hartz IV anschaut und dabei eine Zeit lang selbst unter den Bedingungen von Hartz IV lebt", und zwar "mindestens fünf Monate".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen