: Harmonisierung nach unten
CONTRA: Die Grundrechtecharta darf nicht in den EU-Vertrag. Sie bedroht die sozialen Rechte – einseitig werden vor allem die Interessen der Kapitalbesitzer geschützt
Die Grundrechtecharta ist der Versuch, einen Schritt in Richtung einer europäischen Verfassung zu gehen. Das ist nicht abzulehnen – aber eine Grundrechtecharta ist auch kein Wert an sich. Eine Verfassung ist nicht deshalb gut, weil es eine Verfassung ist.
Die Befürworter argumentieren, dass die Charta notwendig sei, damit der Europäische Gerichtshof eine Grundlage für seine Rechtsprechung hat, wenn es um EU-Gesetze geht. Dies ist ein Irrtum: Der EuGH spricht bereits Recht und hat auch die Grundlagen dafür. Dazu gehören die Europäische Menschenrechtskonvention, die Sozialcharta, die Gemeinsame Erklärung für die Rechte der Arbeitnehmer, die gemeinsamen Grundsätze, die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten enthalten sind, sowie die internationalen Verträge, denen die einzelnen EU-Staaten beigetreten sind.
Wird jetzt eine Grundrechtecharta in den EU-Vertrag aufgenommen, dann wird in einem Bereich mit Verfassungsrang ein Stück europäisches Recht geschaffen, das zweifellos die Verhältnisse harmonisiert. Die Frage ist nur: nach oben oder nach unten?
Aus der Sicht der sozialen Bewegungen ist es eine Harmonisierung nach unten. Bei den gewerkschaftlichen Rechten, aber vor allem beim Recht auf soziale Leistungen fällt die Charta hinter die bisherigen Standards zurück – vor allem hinter die Europäische Sozialcharta, aber auch hinter die Sozialsysteme zahlreicher Mitgliedstaaten. Auch die deutschen Regelungen sind bisher besser.
Nicht so schlimm, könnte man denken: Die EU-Grundrechtecharta würde ja nur für die Gesetze gelten, die „ihren Ursprung in Brüssel“ haben. Sie kann nationales Recht nicht außer Kraft setzen – wenn es um Sachverhalte geht, die sich nur auf nationales Recht beziehen. Doch je mehr die EU eine politische Union werden will – noch dazu mit einer gemeinsamen Verfassung –, maßt sie sich zusätzliche Kompetenzen an. Schon heute haben über 60 Prozent der im Bundestag verhandelten Gesetze ihren „Ursprung in Brüssel“. Zudem werden momentan auch die Außen- und Militärpolitik stärker zusammengeführt; damit wandern zwei weitere Großbereiche in die Kompetenz der EU. Und schließlich wird auch die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht ausgespart bleiben, die bislang nicht in den Zuständigkeitsbereich der Union gehörte.
Einen ersten Vorstoß dazu gibt es schon: So haben die EU-Sozialminister im Vorfeld von Nizza vorgeschlagen, die EU-Kommission vertraglich zu ermächtigen, einheitlich die Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld festzulegen. Doch was, wenn eine solche Richtlinie dann weit hinter national geltende Bestimmungen zurückfällt? Auf der Basis der Gundrechtecharta könnten höhere nationale Standards nicht eingeklagt werden. Denn die Charta formuliert die sozialen Rechte nur sehr vage. Anders ausgedrückt: Ein europaweites Recht auf Streik, auf Tarifverträge oder auf ein bedarfsorientiertes Mindesteinkommen (wie die Sozialhilfe) gibt es nicht. Interessant: Im Gegensatz dazu ist in der Charta das Recht auf Eigentum, auf freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr europaweit garantiert. Die Freiheit des Marktes ist der oberste Maßstab.
Was in der Charta festgehalten ist, ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die EU-Regierungen einigen konnten. 50 Jahre soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung werden mit einem Federstrich vom Tisch gewischt.
Deswegen sind wir dagegen, dass diese Charta in die Verträge kommt. Wir fordern stattdessen eine breite Diskussion über die Rechte, die europaweit garantiert werden müssen, eine Diskussion, die die Bevölkerungen in den EU-Staaten erreicht und einbezieht. ANGELA KLEIN
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