: Harmonie für die zerbrochene Welt
Drei sehenswerte Ausstellungen von Frauen, die aus allerlei Alltagsgegenständen Kunst machen:Louise Nevelson im Museum Wiesbaden, Lutz Bacher in Oslos Astrup Fearnley Museet und Sarah Lucas im Kiasma in Helsinki
Von Jana Janika Bach
Die Umwelt, das Internet, die bisherige Weltordnung? Kaputt. Der Bildungssektor, die Deutsche Bahn und städtische Infrastruktur … spielend ließe sich die Liste fortführen. Es wäre zum Verzweifeln, gäbe es nicht in allen Zeiten Menschen, die da Abhilfe zu schaffen wüssten.
„I join the shattered world creating a new harmony“, brachte Louise Nevelson, die „Grand Dame der Bildhauerei“, ihre Kunst selbst einmal trefflich auf den Punkt. Und tatsächlich bildet den Kern ihres Œuvres in Stücke Gegangenes und neu Arrangiertes. Wie auf den Straßen Manhattans zusammengeklaubtes Holzmobiliar – aus dem Müll gefischte Bettpfosten, Stuhlbeine, Teile von Schränken und Kommoden –, das sie zu reliefartigen holistischen Skulpturen verarbeitete.
In Gold, Schwarz oder Weiß bemalte sie ihre großformatigen Assemblagen, die magisch-majestätisch, wie Schreine oder Totems anmuteten. 1959 begründeten sie Nevelsons Aufstieg zum Weltruhm. Gemeinsam mit Werken von weitaus jüngeren Kollegen, wie Frank Stella, Robert Rauschenberg oder Jasper Johns, präsentierte die damals Sechzigjährige ihre monochromatischen Kompositionen in der legendären Schau „Sixteen Americans“ im Museum of Modern Art in New York.
Spät also fand die 1899 nahe Kiew als Leah Berliawsky geborene Tochter jüdisch-orthodoxer Einwanderer ihren Weg Richtung Kunstolymp. Umso vehementer beschritt sie ihn. In ihrem autobiografischen Essay „A Total Life“ schrieb sie, es gebe nichts, dem sie sich näher fühle als ihrer Arbeit, mit ihr sei sie eine Ehe eingegangen. Noch im gleichen Jahr wie ihrer Scheidung 1931 von dem wohlsituierten Unternehmer Charles Nevelson nahm sie ein Studium bei Hans Hofmann in München auf, einem der Begründer der New York School. In den 6oer Jahren, in denen Nevelson als gefeierte Künstlerdiva Kontakt zu prominenten Zeitgenossen und ein exzentrisches Erscheinungsbild pflegte, wurde ihr vom Kubismus und abstrakten Expressionismus beeinflusstes Werk auch in Deutschland gezeigt.
In diesem Herbst würdigt das Museum Wiesbaden die Ausnahmekünstlerin mit einer Retrospektive – genau 35 Jahre, nachdem Louise Nevelson hier mit anderen „Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts“ für Furore sorgte (31. 10. 2025–15. 3. 2026). Neben den berühmten Skulpturen werden rund 50 kleinformatige Collagen zu sehen sein. Das Centre Pompidou in Metz wiederum widmet sich mit „Mrs. N’s Palace“ 37 Jahre nach Nevelsons Tod der Wirkungsmacht ihres Vermächtnisses.
In jedem Genre gibt es sie: Virtuosen, die in der Szene hochgeschätzt, geradezu verehrt werden, deren Name einem breiten Publikum indes kaum ein Begriff ist. Lutz Bacher war so ein „artists’artist“, der oder die große Unbekannte in der Kunstwelt – die lange rätselte, wer sich hinter dem bodenständig, nach Erdäpfeln und Jausenbrot klingenden Pseudonym verbarg. Ein irreführendes Versteckspiel, das weniger einen Mythos à la Banksy nähren sollte, vielmehr Ausdruck einer Verweigerungshaltung war.
Rigoros entzog sich ihr Werk – es handelte sich, das wusste man bald, um eine Frau –, das sich diverser Medien bediente und keine signifikante Handschrift erkennen ließ, einer Vereinnahmung durch den auf Branding versessenen Markt. Mühelos dagegen verwurstete Bacher, die erstmals in den 70er Jahren im kalifornischen Berkeley von sich reden machte, ihre Umwelt. Überall wurde sie fündig, in Altwarenläden, im Müll, sie durchforstete Zeitungen und Groschenromane, und was sie entdeckte – Baseballs, Murmeln, Requisiten aus TV-Shows, Handyvideos, Bilder von Politikern, aus Pornoheften oder der Populärkultur –, integrierte sie als Objets trouvés in ihre Kunst.

Obschon die zierliche Frau mit dem dünnen, maisblonden Haar gar in persona vor die Kamera trat, wie 2016, als sie anlässlich ihrer Schau in der Wiener Secession Kindheitserinnerungen schilderte, ist auch fünf Jahre nach ihrem Tod – 2019 starb Bacher mit 75 Jahren – das Geheimnis um ihre wahre Identität nicht gelüftet. Inwiefern eine Begegnung mit Bachers Arbeiten das eigene Ich herausfordert, nicht zuletzt, weil biografische Bezugspunkte als Interpretationsstütze fehlen, kann ab September im Astrup Fearnley Museet in Oslo (26. 9. 2025–4. 1. 2026) erprobt werden (und danach im Brüsseler Wiels).
Posthum gewährt die Retrospektive, die ikonische Serien wie „Jokes“ (1985–1988) und „Playboys“ (1991–1993) zusammenführt, umfassend Einblicke in vier Jahrzehnte künstlerisches Wirken, so auch in Bachers über 300 Ordner umfassendes Archiv „The Betty Center“ – zugleich Baukasten, Instrument und Kunstwerk.
Kultur hat es im Zeitalter autoritärer Herrscher, die Kunst verachten, zunehmend schwer. Doch weiter wird Kunst gemacht und Kultur genossen. Etwa von Liebhabern der Schallplatte und auch von den Ehrenamtlichen, die kleine Kinos betreiben. Oder nehmen wir ein Theater wie die Neue Bühne Senftenberg, die in der Provinz ein tolles Programm macht. Davon handelt diese Ausgabe von taz thema kulturrausch. Zudem werden einleitend internationale Ausstellungen von drei Künstlerinnen empfohlen.
Während Bacher fürs Düsseldorfer K21 ihre „Texas Pants“, billige Pyjamahosen, auf denen Dollarzeichen prangten oder Slogans wie „Go Big or Go Home“ (und damit eine Wiederbelebung des amerikanischen Traums ad absurdum führte), produzierte Sarah Lucas in den nuller Jahren ebenfalls kopflose, skurrile Figuren – „Bunnys“ aus ausgestopften Strumpfhosen, die sich langbeinig kokett auf schnöden Drehsesseln und Holzstühlen rekelten. Kein Männer-Bashing, bloß ein humoristisch-böser Seitenhieb auf eine sexualisierte Gesellschaft. Rückblickend kommentierte die Britin das lakonisch: Selbstverständlich hätten ihre Hasen Persönlichkeit.
Dass sie sich selbst nicht zu ernst nimmt, bewies die Tochter eines Milchmanns, die im dicht besiedelten Londoner Stadtteil Holloway aufwuchs, früh. Breitbeinig und mit zwei gebratenen Spiegeleiern auf den Brüsten posierte sie 1996 für ihr „Self-Portrait with Fried Eggs – das später als Postkartenmotiv Kultstatus erreichte und heute zigfach in der Kunst, Mode und vom Pop kopiert wurde. Heute zählt Lucas, die zu den rebellischen „Young British Artists“ gehörte, die Damien Hirst 1988 unter dem gleichnamigen Titel zusammentrommelte, zu den einflussreichsten Künstlern Großbritanniens.
Obschon sich die 62-Jährige in der Grafschaft Suffolk nahe der englischen Ostküste niedergelassen hat, hat sie ihre Coolness mitnichten eingebüßt und das Referenzspiel quer durch die Kunstgeschichte beherrscht sie nach wie vor – wie sie zuletzt in der Kunsthalle Mannheim vor Augen führte. Wer das verpasst hat, dem sei ab Herbst „Naked Eye“ und ein Abstecher in die finnische Hauptstadt empfohlen. Dann zeigt das Kiasma in Helsinki (10. 10. 2025–8. 3. 2026), wie sich Alltägliches, Kleidung, Hausrat, Zigaretten oder rohe Hühnchen, verwandeln lassen, frei nach der Devise „Wenn’s dir nicht gefällt, mach es neu“.
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