: Hansdampf in allen Gassen
Selbstvermarktung ist in der Kunstwelt heute wichtiger denn je. Unser Autor schreibt über den Fall eines besonders schamlosen „Künstlers“, der die Rezensenten regelmäßig zum Verstummen brachte – indem er bei jeder Kritik laut zu plärren begann

Von Uli Hannemann
In unserer Reihe „taz goes artsy-fartsy“ möchten wir euch heute Gernot Bübchen aus Plauzburg an der Steinstraße vorstellen. Ob Malerei, Architektur, Musik, Theater, Film, Literatur, Performance, Stand-up-Comedy, Comic-Kunst, Darts, Freestyle-Kamasutra und vieles andere mehr: Der polyvalente Künstler beherrschte nach eigener Aussage als einziger perfekt die komplette Palette künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten.
Im Nachhinein können wir es ja sagen: Das ist so nicht ganz korrekt. Genau genommen war alles, was er machte, Schrott und Scheiße, meistens sogar wortwörtlich. Doch Kritik ist ja oft ein zweischneidiges Schwert. Als ein Kunstkritiker den Fehler machte, Bübchens Zyklus „die zehn Gebote“ (6 x 10 Meter, Schrott und Scheiße auf Leinwand) als „fickende Strichmännchen“ zu verspotten, lernte die Welt Gernot Bübchen aber mal so richtig kennen.
Seine Angewohnheit, jedes Mal laut zu weinen, sobald jemand eines seiner Werke kritisierte, ließ die Experten rasch verstummen. Feuilletons wurden entweder komplett eingestellt oder verlangten von neuen Mitarbeitern schon vor Aufnahme ihrer Tätigkeit eine Ausschlusserklärung, die die negative Besprechung von Gernot Bübchens Kunst verbot.
Denn „lautes Weinen“ ist der falsche Ausdruck. Vielmehr handelte es sich um ein markerschütterndes, in nicht für möglich gehaltenem Maße Nerven zerreißendes Plärren, eine abartige Hyperkakophonie, die im Umkreis von vielen tausend Kilometern Gläser zerspringen ließ, Autoreifen in schneller Fahrt zum Platzen brachte und Kurzschlüsse in die Herzschrittmacher zauberte. Den Kühen gerann die Milch im Euter zu verschimmelter Crème fraiche, Föten gingen ab, Vulkane kotzten Blut und Lava, und tektonische Platten verrutschten wie Spielkarten auf einem ICE-Vierertischchen im Verlauf einer Notbremsung.
Diese existenzielle Prüfung für den Planeten beeinflusste die Rezeption von Bübchens Schaffen nicht unwesentlich. Genauer gesagt, beförderte sie die Entstehung eines überaus treuen Publikums, das jedes Mal laut jauchzte, wenn das verschmitzte Lächeln des Gelingens auf des Künstlers Antlitz stolz erstrahlte. Dann freuten sich alle mit diesem großen Kind, und ein wohlwollendes Gurren erfüllte die Theater, Konzertsäle, Galerien, Kinos, Sportarenen und Reichsaufmarschfelder, die im Zeichen des erstarkenden Faschismus überall wieder wie braune Brandenburger Bio-Champignons aus dem Boden schossen.
Schließlich wollte ja auch keiner sterben. So wurde seine Malerei völlig neu bewertet. Man habe das entscheidende Element übersehen, hieß es, nun aber sei die Kunstszene reif für die neuen grandiosen Einflüsse. Das Lästermaul mit den Strichmännchen kam bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Die Bremsleitungen, Karma, Kismet, ein Marder wohl. In der Folge nahm Bübchens Karriere erst so richtig Schwung auf. Seine Fotografien des Nachthimmels über Plauzburg bei Neumond wurden in London, Barcelona und New York ausgestellt, alles Städte, die mutmaßlich keinen Bock hatten, in Schutt und Asche geheult zu werden.
Das „Karussell der Gartenzwerge“ in Fies Moll, eine Symphonie für Hackbrett, Dudelsack und singende Säge, tourte jahrelang vor ausverkauften Hallen. Wenn er Bock hatte oder betrunken war – und meist war beides der Fall – ließ es sich der Kunstschaffende nicht nehmen, selbst zu „singen“, ob in Bayreuth oder bei „Monster Ronson’s Ichiban Karaoke“ – überall gab die „lebende Mittelohrentzündung“ (Untergrundkritiker vor seiner Verhaftung) ihre grölende Visitenkarte ab. Opportunistisch huldigte die Öffentlichkeit seinem Gesangsstil als „betörendem Kreischen“.
Auch literarisch konnte ihm keiner ein X für ein U vormachen. Das machte er schon selbst, ein Pionier der Sprache, der die Buchstaben endlich aus der Bedeutungsenge ihrer ursprünglichen Lautzuschreibungen befreite. Daneben wird sein berühmtes Herbstgedicht („Herbst, Schnerbst; alles bunt, scheißt der Hund“) seit Jahrzehnten in jedem Deutschabitur analysiert.
Großen Einfluss hatte Bübchen auf die Weltarchitektur. Tesafilm, Sicherheitsnadel und Pattex waren die Stabilisierungselemente seiner Wahl. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, lautete das Motto des Meisters, der auch privat als kettenrauchender Kondommuffel im Wingsuit stets voranflog. Die extreme Fallhöhe zwischen Schein und Sein bildete einen immanenten Bestandteil seines Kunstkonzepts. Sein Film über den spektakulären Einsturz der von ihm zusammengetackerten „Golden Tape Bridge“ wurde wiederum zum eigenständigen Kunstwerk.
Kein Wunder angesichts all dieser Leistungen, dass die Saftgemeinde Plauzburg ihrem größten Sohn ein Denkmal setzte. Dabei war er da noch gar nicht tot. Sicher steckte hinter der verfrühten Weihe auch der heimliche Wunsch, er wäre es, denn bei aller Bekanntheit die er seiner Heimatstadt verschaffte, lag zugleich stets ein dräuender Schatten über dem Wirken Bübchens.
Denn nie wusste man, was dem begnadeten Utility Artist wohl als nächstes einfiele: Würde er ohne Vorwarnung ein lebendes Schwein aus dem Hubschrauber auf den Marktplatz fallen lassen? Sich in einer Satire-Aktion zum Bundeskanzler wählen und anschließend in einem teuflischen Krippenspiel alle Erstgeborenen töten lassen? Würde er einen seiner berüchtigten farbigen Riesenpupse in den Äther furzen? Auch dass das Genie bei allem, was es tat, stets konsequent nackt auftrat, schmerzte vielen in der Seele. Ja, der Name Plauzburg lag in aller Munde, allerdings meist als Synonym für das Unaussprechliche, das Grauenhafte mit der Postleitzahl, die da lautet: 666.
Wenig überraschend fiel die Wahl des Skulpteurs auf Gernot Bübchen selbst. Das hätte er sich sowieso nicht nehmen lassen; andernfalls hätte er auf jeden Fall geweint. Denn neben Stickerei, Rhythmischer Sportgymnastik und dem Zusammensetzen von Ü-Ei-Figuren auf seinem Youtube-Kanal hatte er natürlich auch die Bildhauerei mit der Muttermilch eingesogen.
Dazu sei angemerkt, dass jene Generation von Müttern in puncto Enthaltsamkeit während Schwangerschaft und Stillzeit noch nicht so dogmatisch indoktriniert war, wie man es heute kennt. Nikotinentzug? Zu stressig für Körper und Seele einer werdenden Mutter. Auch rieten die Ärzte zu regelmäßigem Alkoholkonsum gegen Langweile, Niedergeschlagenheit und Angstzustände. „Löten Sie sich ruhig jeden Abend ordentlich zu, Frau Bübchen“, hatte Frauenarzt Dr. Haarmann geraten. „Dann wird es garantiert ein Junge.“
Und er hatte recht. Dieser Junge formte aus eingeweichten Brötchen, Lehm und Kot eine Reiterstatue von gigantischer Größe. Sie überragt die Saftgemeinde und den nahen Höhenzug des Schwalm sogar noch, nachdem sie eingestürzt ist und unter anderem ihren Schöpfer unter sich begraben hat. Dort ruht er nun in und unter sich selbst, und wir dürfen es endlich wagen, sein Zeug als das zu kritisieren, was es ist: ein elender Pfusch, ein schamloser Schund, der sämtliche Sinne demütigt, schändet und beleidigt; das Salz auf dem einst fruchtbaren Boden der Kultur. Zum Glück ist die Ratte tot.
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