Hans-Christian Schmid über Reemtsma-Film: „Da ist protestantische Disziplin“

Der Film „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt die Reemtsma-Entführung nach. Regisseur Hans-Christian Schmid über das Problem, echte Leben zu verfilmen.

Ein Junge schaut auf ein Blatt Papier, eine Frau steht hinter ihm

Die Angehörigen: Johann (Claude Heinrich) und seine Mutter Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) Foto: Pandora

taz: Herr Schmid, welche Erinnerungen haben Sie an 1996, als im Frühjahr Jan Philipp Reemtsma entführt wurde?

Hans-Christian Schmid: Wir waren im April 96 auf der Kino-Tour mit „Nach Fünf im Urwald“, in dieser Zeit tauchte ein Spiegel-Titel mit Jan Philipp Reemtsma auf. Das war dann schon die Berichterstattung nach dem Ende der Entführung, weil es ein Stillhalteabkommen mit den Medien gab. Ich habe das wahrgenommen, aber nie gedacht, ich könnte das verfilmen.

Der Regisseur Hans-Christian Schmid wurde 1965 in Altötting geboren. Er studierte Dokumentarfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Sein Spielfilmdebüt war „Nach Fünf im Urwald“ (1995). Zu seinen weiteren Spielfilmen zählen unter anderem „23 – Nichts ist so wie es scheint“ (1998) und „Requiem“ (2006).

Und in den 20 Jahren danach?

Auch nicht. Vor allem wäre ich nicht auf die Idee gekommen, über die Entführung aus der Perspektive des Sohnes zu erzählen. Von den Stoffen, für die ich mich interessiere, wäre so ein Entführungsfall gar nicht infrage gekommen. Das ist dann tatsächlich ein Gespräch mit meinem Co-Autor Michael Gutmann gewesen, der gesagt hat, es gibt ein Buch vom Sohn von Jan Philipp Reemtsma, das finde ich total interessant (Anm. d. Red.: Johann Scheerer, „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ (2018)). Lies doch mal. Dieser Tag im März 2018 war der Anfang meiner Beschäftigung mit dieser Geschichte.

Sie haben einmal gesagt, Sie bräuchten immer einen persönlichen Bezug zu einer Geschichte. Was war das in diesem Fall?

Die Chance, etwas über eine Familienkonstellation zu erzählen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn eine Familie von heute auf morgen nicht mehr vollständig ist. Das ist aber schon ein fast zu direkter Anknüpfungspunkt. Mittlerweile habe ich selber zwei Kinder und finde es interessant, was von außen auf eine Familie eindringen kann, was eine Familie stärkt oder zerstört oder wie man mit Ausnahmesituationen umgeht. Damit sind Michael und ich angetreten, da konnten wir anknüpfen, obwohl wir beide nicht aus so einem Milieu stammen und nie mit einer Entführung zu tun hatten.

Es ist eine schmale Gratwanderung, wenn man die Geschichte von realen Menschen verfilmt.

Das habe ich auch sehr deutlich empfunden, weil alle Beteiligten noch leben. Wir haben mit allen gesprochen, nicht nur mit Johann, auch mit seiner Mutter (Anm. d. Red.: Ann Kathrin Scheerer), dem Anwalt, den Polizisten. Das war ein großer Gewinn, aber auch eine Verpflichtung, wir hatten ja durch die Filmrechte nicht den Freibrief, ihnen Dialoge in den Mund zu legen. Uns war bewusst, dass es kompliziert werden könnte, wenn jemand nicht einverstanden ist. Das besonders Herausfordernde war, Johanns autobiografischem Roman gerecht zu werden und zugleich sechs unterschiedlichen Versionen der Wirklichkeit der beteiligten Personen.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Claude Heinrich, Adina Vetter u. a. Deutschland 2022, 118 Min.

Das klingt wie Familientherapie …

Das war es bestimmt auch. An Johanns Roman mussten wir uns gar nicht so streng halten wie anfangs gedacht. Ihn hat die Haltung von außen interessiert, es sollte unsere Interpretation sein. So ähnlich hat auch seine Mutter argumentiert, da fühlten wir uns schon sehr frei. Sie bestanden nur darauf, dass es psychologisch genau und nicht unterkomplex wird.

Wie haben Sie das Vertrauen Johann Scheerers gewonnen, seine Geschichte zu verfilmen? Seine Motivation, das Buch zu schreiben, war, die Deutungshoheit über das Erlebte zurückzuerlangen. Die gibt er mit dem Film wieder ein wenig ab.

Michael und ich haben uns immer wieder die Frage gestellt: Warum lässt Johann sein Buch verfilmen? Es gab eine Reihe von Bewerbern, und er hat fast ein Jahr gewartet mit der Zusage. In der Zeit hat die Familie, denke ich, versucht, sich darüber klar zu werden, ob eine Verfilmung eine gute Idee ist. Johann und seine Mutter konnten sich das vorstellen, sein Vater nicht so sehr. Und das musste erst geklärt werden. Mit Jan Philipp Reemtsma hatte ich Mailkontakt, wir sind uns aber nie begegnet, und ich kann verstehen, warum er das alles hinterfragt hat und sich nach dem Buch jetzt nicht auch noch einen Film wünscht, mit einer Deutung von außen, die er vielleicht nicht maßgeblich findet. Aber letztlich hat er uns dann doch viel Glück gewünscht.

Sie zeigen die angespannte Situation im Haus sehr präzise und oft wenig schmeichelhaft. Gab es Bedenken, wie kritisch die Darstellung sein kann und muss?

Wir wollten niemanden in die Pfanne hauen und ich glaube, das haben auch alle gespürt. Gleichzeitig wussten auch alle, dass es keine Heldengeschichte wird, weil alle Fehler gemacht haben, alles andere wäre verlogen. Ann Kathrin Scheerer zumindest trifft die zwar späte, aber richtige Entscheidung, die Polizei rauszuwerfen. In unserem Bemühen, allen gerecht zu werden, haben die Beteiligten auch gemerkt, dass sie das Ambivalente zulassen können. Christian Schneider, der Freund der Familie, der das Haus verlässt, Anwalt Schwenn sowieso.

Und auch die beiden Betreuer sind streitbar. Jetzt, mit 25 Jahren Abstand, haben sie uns Materialien zur Verfügung gestellt, Protokolle jedes einzelnen Tages, aus denen hervorgeht, was alles schiefgelaufen ist. Sie haben nicht versucht, es zu verbergen, sondern gesagt: Ja, das war falsch. Die Polizei ist ein hierarchisches System, sie hatten Entscheidungen der Einsatzleitung zu befolgen, die sie selber nicht gut fanden. Gerade was die Polizeitaktik und deren Entscheidungen angeht, ist alles recherchiert und inhaltlich nicht zu bemängeln. Das stellen wir auch so dar.

Hatten Sie über die beiden Betreuer hinaus Kontakt zu anderen Polizeimitarbeitern?

Wir haben auch mit der Polizeipsychologin gesprochen. Der Einsatzleiter hingegen hat lange Zeit gesagt, er brauche unser Drehbuch nicht zu lesen, er kenne ja schon Johanns Roman. Und wir haben dann insistiert, weil unsere Version doch etwas anders ist. Die finale Fassung unseres Drehbuchs hat er dann nicht gut gefunden. Er gab zwar zu, dass es faktisch richtig ist, aber als Person würde er sich selbst ganz anders sehen, er hielt die Figur im Film für einen „Betonkopf“. Als wir ihm dann vorschlugen, den Namen zu ändern, war er einverstanden.

Es gab damals mehrere Einsatzleiter, einer wollte gar nicht mit uns sprechen. Sie wissen schon, dass sie damals eine unrühmliche Rolle hatten. Das waren nicht nur Pleiten, Pech und Pannen, wie man in Johanns Buch den Eindruck hat, wo sie als eine Tollpatschtruppe gezeichnet wird. Das waren auch taktische Entscheidungen, die dazu führten, dass die Geldübergabe und der Entführte gefährdet waren. Und dieses Versagen gesteht sich die Polizei bis heute nicht ein.

Könnte der Film eine Debatte darüber ins Rollen bringen?

Habe ich mich auch gefragt, auch wenn für mich nicht die Polizeiarbeit im Vordergrund steht. Ich fände es richtig, aber ich fürchte, die Ereignisse liegen zu weit zurück. Wird noch einmal jemand zu recherchieren beginnen, wie das damals abgelaufen ist? Wie wir auch im Film zeigen, verlangte der echte Einsatzleiter damals, wenn er sich auf die Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst einlässt, dass dann aber alle Erfolge der Polizei zugesprochen werden.

Schon erstaunlich, wie jemand so sehr um seine Position und öffentliche Wahrnehmung kämpft. Er galt damals als Held bei der Hamburger Polizei. Kurz zuvor hatte er den Kaufhauserpresser Dagobert gestellt. Es hat ihn ziemlich mitgenommen, hier so eine Schlappe zu erleben. Später hat er ein Buch über seine Laufbahn bei der Polizei veröffentlicht, da ist der Fall Reemtsma interessanterweise außen vor.

Auch die innerfamiliären Strukturen und Dynamiken sind bemerkenswert unsentimental dargestellt, das Zusammenleben erscheint pragmatisch-kühl …

Eine gewisse hanseatische Distanziertheit wird schon in Johanns Vorlage sichtbar, wenn er etwa seine Eltern nicht Mama und Papa nennt, sondern mit deren Vornamen anspricht. Später wirkt es dann so kühl, weil Mutter und Sohn sich in dieser Ausnahmesituation nicht gehen lassen wollten. Da ist so eine protestantische Disziplin, sie wollten sich nicht zugestehen, wie schlecht es ihnen geht, selbst die heulende Haushälterin wurde nach Hause geschickt. Diese Stimmung wollten wir erhalten und Johann und Ann Kathrin waren damit einverstanden.

Welche Reaktionen erwarten Sie von der breiten Öffentlichkeit?

Dass der Film ein emotionales Erlebnis ist, und es hinterher das Bedürfnis gibt, darüber zu reden. Über den Interessenkonflikt etwa zwischen dem Wunsch der Angehörigen, das entführte Opfer bedingungslos zu retten, und der Staatsgewalt, die den oder die Täter fassen und mögliche Nachfolgetaten verhindern will. Eine Debatte über die Polizeiarbeit in dem Fall würde mich freuen, aber es war nie der Antrieb, den Film zu machen.

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