piwik no script img

Handgepäck für das nächste JahrtausendServicewüstenhaftigkeit

Utopische Resistenz gegen die Zumutungen modernen Lebens: Die Berliner Verkehrsbetriebe werden unbedingt mitgenommen

Einmal, der neue Computer war neu, wollte ich einen Text schreiben, in dem der Ausdruck „Kottbusser Tor“ vorkam. Leider hatte sich durch ein paar Mausklicks zu viel das Rechtschreibprogramm von Winword 95 aktiviert, das damit nichts anfangen konnte. Sein Vorschlag: „Kostbares Tor“! Wer die Verhältnisse am und um den gleichnamigen Berliner U-Bahnhof kennt, weiß, wie absurd das ist. Also solche Rechtschreibprogramme und ähnliche moderne Texthilfen werde ich garantiert nicht ins nächste Jahrtausend mitnehmen.

Eigentlich sollte es in dem Kottbusser-Tor-Text allerdings um eine sozialrevolutionäre Fantasie in Zeiten der Baustelle gehen. 23 Uhr 15, an eben jener Station: Wieder mal endet der Zug hier, wieder mal ist der Anschlusszug nicht da, wieder mal bequemt die schnarrende Stimme aus dem Lautsprecher sich erst nach langen Minuten des Wartens, einen über die Möglichkeiten des weiteren Fortkommens in Kenntnis zu setzen.

Doch diesmal ist alles anders! Engagierte Nutzer der Berliner Verkehrsbetriebe (die sich in dieser Stadt BVG abkürzen) erheben sich spontan, stürmen unter meiner Führung das Häuschen, in dem das Personal kauert, zerren es unter dem Beifall aller nach draußen. Gelt, da fallen ihnen die Stullen, Bemmen oder wie sie es nennen, aus dem offenen Mund, ja, da tritt ihnen der Angstschweiß auf die Stirn! Öffentlich und auf den Knien müssen sie Besserung geloben, während aus einem Ghetto-Blaster der alte Scherben-Song erklingt: „Hey, hey, hey, eher brennt die BVG.“

Dabei mag ich die BVG. Eigentlich. Ich mag sie aus denselben Gründen, aus denen ich sie den Rest der Zeit hasse. Für ein gewisses Entgelt würde ich sogar für Mitnahme ins neue Jahrtausend plädieren – wenn dieses Zwieschlächtige mit im Handgepäck ist. Die Schlampigkeit, Unfreundlichkeit, Wurschtigkeit, die Servicewüstenhaftigkeit und pure Unverschämtheit gegenüber dem zahlenden Gast ist nämlich zugleich das Ferment einer utopischen Resistenz gegen die Zumutungen des modernen Lebens, wie sie in dieser schönen Blüte nur noch in Berlin gedeiht.

Man muss einmal einen Blick geworfen haben ins Innere dieser Personal-Verliese auf zugigen Gleissteigen, in denen BVG-ZugabfertigerInnen der Funktionalität trotzen: Funzeln, handgeschriebene Fahrpläne, Pirelli-Kalender! Viel anders kann es auf einem Bahnhof in Sibirien auch nicht zugehen. Die städtische Transit Authority als ästhetische Transsib – wo sonst kriegt man solches heute noch geboten?

Meine Lieblings-BVG-Anekdote aber – selbst erlebt! – ist die, wie ein Fahrer einmal den U-Bahnhof verfehlte. Weil der Zug nicht anders konnte, als geradeaus zu fahren, stoppte er ihn mitten im Tunnel und trat, einer plötzlichen Eingebung folgend, durch die Tapetentür von der Bedienkabine in den Fahrgastraum. Wie der Mann sich theatralisch gestikulierend, mit wirrem Haar und Hemd aus der Hose, ebenso heftig mit den Armen rudernd wie berlinernd für seinen Fauxpas entschuldigte und fast noch jedem von uns, die wir erschrocken hinter Zeitungen saßen, die Hand geschüttelt hätte – also das hatte Stil! Man eilt in dem Gefühl zur Arbeit, sich nicht als einziger an diesem Morgen vom fettigen Troll in ein klares, kühles Gedankenwesen verwandelt zu haben.

Mit entsprechender Skepsis beobachte ich die Tendenzen zur ästhetischen und funktionalen Innovation. „Sehr geehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie das Rauchverbot!“ – es klingt, wenngleich von einem Frauencomputer gesäuselt, verheerender als das alte „Zrrrrrrrccckbllllm!“ Auch diese Anzeiger, die einem digital anzeigen, wie viel Zeit man gerade auf dem Bahnsteig verwartet – weiß nicht, weiiiiß nicht. Solcherlei Art von Angestelltenbenutzerobenflächerei mit Schnickschnackqualität praktizieren sie doch schon in Köln. Es lebe der Distinktionsgewinn! Wenn das Kottbusser Tor einmal zum Kostbaren Tor geworden ist, ziehe ich aus Berlin weg.Thomas Groß

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen