Hamburger Ausstellung über vergessenen Massenmord: Vernichtet in der Grube bei Minsk
In dem Örtchen Malyj Trostenez bei Minsk haben die Nazis zwischen 1942 und 1944 Tausende Juden auch aus Hamburg, Bremen und Stade erschossen.
Bei den reinen Vernichtungslagern – Bełżec, Chełmno, Sobibór – an der heutigen polnischen Ostgrenze war das anders: Sie waren Tötungsanstalten, die fast niemand überlebte. Deshalb wissen wir so wenig darüber. Wer sollte davon erzählen?
Dieses Schweigen setzt sich nach Osten fort: Wenige überlebten die Erschießungen im ukrainischen Babij Jar bei Kiew, wenige den weißrussischen Vernichtungsort Malyj Trostenez bei Minsk, dem derzeit eine Ausstellung in Hamburg gilt. Auch in der Nähe der Gettos im litauischen Kaunas und im lettischen Riga gab es Wälder und Schluchten, in denen die SS und Spezialeinheiten Juden, Sinti, Roma, Oppositionelle, Partisanen, ganze Dörfer vernichtete.
Erst seit rund 20 Jahren, als sich mit dem Eisernen Vorhang die Archive der Ex-Sowjetunion öffneten, können Historiker Details dieser Seite des Massenmords ergründen. Doch bis heute wissen nur Fachleute, dass von sechs Millionen Juden, die das NS-Regime ermordete, die Hälfte nicht vergast, sondern erschossen wurde. Und dass in Weißrussland während des Zweiten Weltkriegs mehr Zivilisten starben als in allen anderen Ländern: rund 1,6 Millionen.
Eine dieser Wissenslücken sucht die aktuelle Ausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez“ zu schließen, die derzeit in Hamburgs Hauptkirche St. Katharinen zu sehen ist und zunächst in Deutschland, im Frühjahr 2017 auch nach Minsk touren soll. Vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) als deutsch-weißrussische Kooperation initiiert, führt sie in Texten und Fotos ein Grauen vor Augen, das man schwer erträgt. Und zwar vor allem deshalb, weil man nach 75 Jahren endlich das Ausmaß des NS-Massenmordes zu kennen glaubte.
Aber so ist es nicht: 50.000 bis 200.000 Menschen – die Zahlen variieren stark – wurden zwischen 1942 und 1944 in dem hierzulande unbekannten Ort ermordet. Dort war einst ein Gut, später eine landwirtschaftliche Sowjet-Kolchose, die die Deutschen nach dem Einmarsch im nahen Minsk zum Zwangsarbeiterlager umfunktionierten. 200 bis 900 Häftlinge sollten hier die deutschen Besatzer mit Essen versorgen – zunächst nur das.
Doch dann griff die kalte Logistik des NS-Regimes: Da ständig Tausende Juden aus West- und Osteuropa gen Osten deportiert wurden und das Getto Lódż bald überfüllt war, ließ die SS im Wald Blagowschtschina bei Malyj Trostenez eine weitere Grube für Massenerschießungen ausheben. Opfer wurden Juden aus Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren; viele erschoss die SS gleich nach der Ankunft, unterstützt von lettischen und weißrussischen Kollaborateuren. Die Zwangsarbeiter in Malyj Trostenez mussten dann die Kleidung der Toten sortieren, später auch die Gas-LKW reinigen, in denen weitere Menschen ermordet wurden.
Parallel lebten im nahen Getto Minsk zunächst 60.000 weißrussische Juden. Als die SS Platz für neue Deportierte aus Westeuropa brauchte, erschossen die Besatzer Tausende von ihnen. In ihre Häuser zogen ab November 1941 rund 7.000 Neuankömmlinge aus Mitteleuropa. Die ersten waren Hamburger Juden, im neben dem Hauptgetto gelegenen „Hamburger Getto“ zusammengepfercht, – und hier schließt sich der Kreis zur aktuellen Ausstellung: Vor 75 Jahren, am 8. 11. 1941, brachte die Reichsbahn 966 Hamburger Juden nach Minsk, von denen 952 umkamen. „Die Überlebenschance war minimal“, sagt Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Zehn Tage später, am 18. 11. 1941, folgte ein zweiter Deportationszug aus Hamburg. Die Hälfte waren Hamburger Juden, die anderen stammten aus Bremen und Stade. Auch sie starben fast alle. Aber man kennt die Namen. Und die sollen, wenn der Gedenkort Hannoverscher Bahnhof am Lohseplatz in Hamburgs Hafencity 2017 fertig ist, auf einer Tafel verzeichnet werden.
Was dort nicht stehen wird: Wo und wie diese Menschen umgebracht wurden, denn neben Malyj Trostenez – einem der größten NS-Vernichtungslager im Osten – gab es noch andere Mordstätten um Minsk herum, sagt Holocaust-Forscher Christian Gerlach von der Uni Bern.
Und vermutlich eine Menge weiterer, vielleicht noch nicht gefundener Massengräber, die die SS, als der Zweite Weltkrieg absehbar verloren war und die Sowjet-Armee vorrückte, zu vernichten suchte: Zwischen Oktober und Dezember 1943 mussten Zwangsarbeiter die verscharrten Leichen von Malyj Trostenez ausgraben und in der nahen Anlage Schaschkowka verbrennen – „Enterdung“ beziehungsweise „Sonderkommando 1005“ hieß die Aktion. Die Zwangsarbeiter – unerwünschte Augenzeugen – erschossen die Deutschen gleich danach.
Und damit wirklich keine Spur von Malyj Trostenez blieb, erschoss die SS im Juni 1944 auch noch über 6.000 Minsker Gefangene und die letzten verbliebenen Häftlinge in einer Scheune und zündeten sie an.
Bekannt ist das alles nur, weil einige wenige überlebten – tagelang zwischen Leichen versteckt. Und weil eine sowjetische Sonderkommission 1944 Bewohner der umliegenden Dörfer befragte und daraufhin Teile der Massengräber fand und öffnen ließ.
Das hinderte die weißrussischen Autoritäten aber nicht daran, den Erschießungswald Blagowschtschina nach dem Krieg als militärisches Übungsgelände und teilweise als Müllkippe zu nutzen.
Doch der Hamburger schweige darüber. Schließlich wurde das Gelände des einstigen KZ Neuengamme bis 2006 weiter als Gefängnis genutzt; die Gedenkstätte entstand erst auf massives Betreiben der Opferverbände. Und noch immer, sagt Historiker Gerlach, sei das Gedenken hierzulande „nationalistisch, weil auf deutsche Opfergruppen fokussiert. Sonst müsste man viel mehr über die nach den Juden zweitgrößte Opfergruppe reden: die sowjetischen Kriegsgefangenen.“
Demgegenüber wurde in Weißrussland jahrzehntelang vor allem der eigenen Zivilisten, der ausgelöschten Dörfer und der Widerstandskämpfer gedacht, dem Partisanen Jewgenij Klumow sogar eine Briefmarke gewidmet. An jüdische Opfer erinnerte dagegen lange nur das Denkmal „Jama“ – „Grube“ –, ein Obelisk für 5.000 Juden, die die Deutschen allein am 2. 3. 1942 im Minsker Getto ermordeten.
Die authentischen Orte – Malyj Trostenez, der Wald Blagowschtschina und der Leichenverbrennungsort Schaschkowka – lagen weitgehend brach. Einige karge Obelisken stehen in der Nähe; weiße und gelbe Zettel mit den Namen der Ermordeten flattern an den Bäumen.
Doch das soll bald anders werden: Mit Hilfe deutscher und weißrussischer Staats- und Stiftungsgelder soll, betreut vom IBB, ein weiterer Gedenkort entstehen, entworfen vom Shoah-Überlebenden und Architekten Leonid Lewin. „Weg des Todes“ wird sein Parcours heißen, der an stilisierten Eisenbahnwaggons mit Opfernamen vorbei zum einstigen Erschießungsort führt, einem schwarzen, leeren Platz. Und auch wenn es bis zur Einweihung noch dauern wird und Weißrussland lange zögerte – der Anfang ist gemacht: Konstantin Kostjutschenkos Monumental-Skulptur „Pforte der Erinnerung“, Gefangene hinter Stacheldraht zeigend, steht bereits.
Was bleibt also von der Hamburger Schau, die ihrem Bildungsauftrag weit besser gerecht geworden wäre, hätte man sie in Hamburgs Rathaus gezeigt – anstatt im abgelegenen St. Katharinen? Neben einer Verdichtung der Täter-Landkarte und der Empathie mit „neu“ entdeckten Opfern die Erkenntnis, dass der NS-Massenmord noch maßloser war als gedacht.
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