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Hamburg: Jugendhilfe auf dem PrüfstandNicht an die Regeln gehalten

Jugendhilfe-Inspektion analysiert Versagen des Sozialen Dienstes im Falle eines schwer misshandelten Säuglings. Die Regeln seien nicht eingehalten worden.

Manches Kinderschicksal möchte man sich nicht ausmalen. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Hamburg taz| Der neun Monate alte Deljo hat überlebt – aber nur knapp. Das Altonaer Kinderkrankenhaus stellte bei dem Baby eine Hirnverletzung fest, die wahrscheinlich durch heftiges Schütteln hervorgerufen wurde und das Kind sein Leben lang beeinträchtigen dürfte. Wie es dazu kommen konnte, dass das Kind aus der Obhut des Jugendamtes an eine als überfordert geltende Familie übergeben wurde, hat die Jugendhilfeinspektion der Sozialbehörde versucht zu klären.

Die Opposition in der Bürgerschaft kritisierte, dass Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) den Bericht am Mittwochvormittag der Presse vorstellte, ohne dass ihre Abgeordneten Gelegenheit gehabt hätten, diesen einzusehen. Das Gutachten wurde laut Behörde am Dienstagnachmittag an die Bürgerschaftskanzlei geschickt. „Es ist empörend, dass die Sozialsenatorin dieses sensible Dokument in die Öffentlichkeit trägt und Konsequenzen daraus zieht, bevor der zuständige Ausschuss eine Möglichkeit zur Behandlung hatte“, schimpfte Sabine Boeddinghaus von der Linken.

Der Bericht spricht hauptsächlich von Fehlern der MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, auch wenn die Leiterin der Inspektion, Gisela Schulze, einräumte, es habe sich um einen komplexen Fall gehandelt. Der Tenor des Berichts und die darin genannten Fehler unterscheiden sich nicht wesentlich vom Ergebnis des Berichts zum bekannteren Fall Tayler, der sich fast zur gleichen Zeit, Ende des Jahres 2015, ereignete. Tayler war infolge des Schüttelns gestorben.

Wenig Kontrolle

Die Jugendhilfeinspektion kritisiert, dass der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) und der Fallbearbeiter die Familie zu wenig besuchten. Der Bearbeiter, im Amtsdeutsch die „Fallführende Fachkraft“, habe die von der Behörde vorgeschriebene „sozialpädagogische Diagnostik“ unvollständig angewandt, sich zu wenig mit seinen Kollegen abgesprochen und das Kind vor der Rücküberstellung an die Familie nicht vom UKE untersuchen lassen.

Außerdem hätte die Zusammenarbeit mit dem eingebundenen freien Jugendhilfeträger klarer abgesprochen und der Fall besser dokumentiert werden sollen. Hier räumte die Inspektion ein, dass das vom ASD verwendete Computerprogramm Jusit an einigen Stellen verbessert werden könnte.

Mit den Problemen der Jugendhilfe befasst sich seit Ende Dezember auch eine Enquete-Kommission der Bürgerschaft. Dabei geht es auch um die Frage: „Kann die Jugendhilfeinspektion der Einhaltung von Standards und Regeln sowie der Etablierung einer förderlichen Fehlerkultur dienlich sein?“

Die Jugendhilfeinspektion ist umstritten, weil sie von Teilen des Allgemeinen Sozialen Dienstes als verlängerter Arm der Behörde wahrgenommen wird. Möglicherweise arbeiteten deshalb an dem aktuellen Bericht neben den vier Leuten der Inspektion auch vier Beschäftigte aus verschiedenen Bezirksämtern mit.

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5 Kommentare

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  • "Der Bericht spricht hauptsächlich von Fehlern der MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, auch wenn die Leiterin der Inspektion, Gisela Schulze, einräumte, es habe sich um einen komplexen Fall gehandelt."

     

    Ob nun komplex oder nich, das Wohl des Kindes muss im Vordergrund stehen. Dieses Kind wird sein ganzes Leben unter diesem einen Fehler des Jugendamtes leiden. Reicht das nicht aus? Muss noch mehr passieren? Muss noch ein Kind sterben? In Hamburg mangelt es nicht an medizinischen Einrichtungen, Pflegefamilien, Trägern oder an Geld für Schutzmaßnahmen, es scheitert am ASD und den Quoten, die im Kern kostenoptimiert sind. Qualität wäre doch das Wichtigste! Im Übrigen untersucht hier eine Behörde die andere - möglicherweise hätte eine unabhängige Fachprüfung noch ganz andere Details zu Tage gebracht.

    • @Andreas_2020:

      Eine bittere Wahrheit: Es ist ein Wunder, dass in Hamburg nicht jeden Monat mindestens ein totes Kind gemeldet wird, bei den behördlichen Zuständen. Neben Arbeitsüberlastung ist genau die Einführung des Systems Jus-IT ein Problem, da dadurch kaum individuelle Maßnahmen geplant werden können. Ebenso häufige Mitarbeiterwechsel, hohe Krankenstände und neben vielen guten Leuten auch einfach solche, die lieber an ihr eigenes Wohl als ASD-Mitarbeiter als an das Kindeswohl denken.

    • @Andreas_2020:

      Ohne fehlerhaft arbeitende Behörden

      und outgesourcte freie Träger - privatrechtliche und gewinnorientierte Unternehmen - in Schutz nehmen zu wollen:

      Das Leid dieser Kinder ist in erster Linie vorwerfbare Schuld ihrer dissozialen Eltern.

      • @Wahrheitundklarheit:

        Diese Eltern waren bereits beim ASD - deren Schwierigkeiten waren bekannt. Im Gesetz steht genug, um genau in dieser Situation für das Wohl des Kindes zu handeln. Das ist ja die Errungenschaft des SGB VIII - sollte das Kindeswohl in Gefahr sein, kann und muss der Staat handeln. Wäre dieses Kind nie gemeldet worden, ja, vielleicht ist es dann eben so, schade aber auch, er/sie hatte eben solche Eltern ... Hier war es anders.

      • @Wahrheitundklarheit:

        Und welche Konsequenzen drohen diesen Eltern ?

        Der Mordversuch aus niedrigen Beweggründen wird zum versuchten Totschlag, der versuchte Totschlag zur Körperverletzungmit Todesfolge und zur Krönung des Ganzen zur fahrlässigen Körperverletzung in einem minderschweren Fall herabgestuft.

        Das klingt zynisch,

        Aber für die verhungerte Lara Maria

        gab es für die Mutter eine Strafe von 3 Jahren, für den Stiefvater von 3 Jahren 8 Monaten.

        Und dazu ziehen wir einmal 1/3 für gute Führung ab und die erkennenden Richter sehen die Tat als gesühnt an.

        Wir auch ?