Haitis Judoka Linouse Desravine: Ihr großer Wurf
Das Erdbeben in Haiti vor zwei Jahren hat den Spitzensport nahezu zerstört. Linouse Desravine ist die Medaillenhoffnung unter den fünf haitianischen AthletInnen bei Olympia.
Von wegen: Dabei sein ist alles. Nix da. Linouse Desravines Ziel mag vermessen sein, sie will es trotzdem erreichen. „Gold natürlich“, sagt sie mit fester Stimme. Nach einer kurzen Pause lacht sie. „Hochgesteckt, stimmt's? Aber warum sollte ich sonst nach London fliegen?“ Natürlich wird sie Gold holen, sagt sie so selbstbewusst, dass es klingt, als sei es das logischste der Welt.
Schon auf den ersten Blick weiß man: Diese Frau hat Kraft. 1,60 Meter groß, 52 Kilo schwer, ihre Gegnerinnen haut sie mit festem Griff auf die Matte. Und sie ist offenbar smart: Keine Scheu vor den Großen.
Linouse Desravine ist die einzige Judoka aus Haiti, die sich für London 2012 qualifiziert hat. Zusammen mit vier LeichtathletInnen ihres Landes reist sie zu den Sommerspielen. Mit ihren 21 Jahren und gerade mal sechs Jahren Trainingserfahrung ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen in ihrer Gewichtsklasse bis 52 Kilo.
Darauf ist sie stolz. Vor allem aber ist sie es darauf, es überhaupt geschafft zu haben, sich für das wichtigste Sportfestival der Welt qualifiziert zu haben. Zumal: Seit dem monströsen Erdbeben vor zwei Jahren, das einen Großteil ihrer Heimat zerstört hat, muss Spitzensport in Haiti akzeptieren, nicht als vorrangig angesehen zu werden.
Frauen sind rar im haitianischen Judo
Desravine stammt aus Cap-Haïtien, einer 110.000 Einwohner Stadt im Norden der Karibikinsel. Ihr Bruder war nationaler Judomeister. Schon als Kind zeigte er ihr Fußfeger, Kragen- und Schulterwürfe und Falltechniken. Aber Frauen sind rar im haitianischen Judo. Vor sechs Jahren, als Desravine 15 war, nahm ihr Bruder sie trotzdem mit in den einzigen Verein der Stadt.
„Meine Eltern waren erst gar nicht begeistert. Judo ist teuer. Zwei Kindern im Verein, das können sie nur schwer stemmen. Aber sie machen es, weil sie wissen, wie wichtig uns der Sport ist.“ Dass Desravine Talent hat, erkannten ihre Trainer schnell. Aber dann kam das Beben.
Cap-Haïtien liegt 250 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Port-au-Prince, dem Epizentrum des Bebens. Zerstört wurde in Cap-Haïtien nur wenig, auch Desravines Judoclub blieb stehen. „Trotzdem waren die Folgen für uns alle spürbar“, sagt sie. Über 300.000 Menschen starben insgesamt, genauso viele wurden verletzt, knapp zwei Millionen wurden obdachlos. Die Bewohner Haitis hatten in den Monaten nach dem Erdbeben andere Sorgen, als den Spitzensport wieder aufzubauen.
Das wirkt bis heute nach. „Uns fehlen ordentliche Ausrüstung und gut ausgebildete Trainer“, sagt Desravine. Zwar spendeten vor allem französische und japanische Judoclubs nach dem Beben Matten und Kimonos, aber die allein machen noch kein Olympiaticket.
Vorbereitung im Ausland
Die Trainingsbedingungen im Judoclub in Cap-Haïtien sind einfach: Ein großer Raum, in dem ein paar Matten und Hanteln für das Krafttraining liegen. Die Hitze von draußen macht auch die Luft hier drinnen stickig. Hier verbringt Desravine vier Nachmittage pro Woche.
Auf internationale Wettbewerbe bereitet sie sich, wie andere haitianische Spitzensportler auch, im Ausland vor. Vergangenes Jahr trainierte sie für sechs Monate an einer spanischen Sportschule. Ihr Spanisch ist schlecht, aber in Valencia konnte sie bei einem ehemaligen Weltmeister trainieren.
Seit zwei Jahren nimmt sie an internationalen Wettkämpfen teil und sammelt eine Medaille nach der anderen ein: Bronze bei den Zentralamerikanischen Spielen 2010, Silber bei der panamerikanischen Judomeisterschaft 2011, Gold bei den zentralamerikanischen Judomeisterschaften 2011. „So soll es weitergehen“, sagt Desravine selbstbewusst.
23 Frauen starten bei den diesjährigen Olympischen Spielen in ihrer Gewichtsklasse, darunter auch die beiden Bronze-Gewinnerinnen der letzten Olympischen Spiele, Misato Nakamura aus Japan und Soraya Haddad aus Algerien.
Angstgegnerinnen? Nö!
Angstgegnerinnen? Desravine lacht. „Auf keinen Fall, mit Angst geht ich nicht auf die Matte.“ Respekt hat sie, na klar. „Aber sobald der Kampf beginnt, ist mir egal, wer vor mir steht.“ Die letzten sieben Wochen hat sie beim französischen Judobund in Paris trainiert. Dort hat sie viel an ihrer Wurftechnik gearbeitet, das habe sie extrem nach vorne gebracht. Aber weit genug nach vorn für Gold?
Holt sie wirklich eine Medaille im Finale morgen, wäre das eine Sensation für Haiti. Es wäre die dritte Medaille in der Sportgeschichte des Landes überhaupt und die erste seit 1928. Da gewann Dudley Dorival Silber in Weitsprung. Gold gab es für Haiti noch nie: Was wäre das für ein Triumph!
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