piwik no script img

Haitianischer Autor Anthony PhelpsVerrat in Zeiten der Diktatur

Endlich werden seine Romane ins Deutsche übersetzt. Eine Begegnung mit Anthony Phelps, dem großen alten Mann der Literatur Haitis.

Nicht gerade zimperlich beim Urteil über das eigene Werk: Anthony Phelps im Jahr 2012 Foto: imago/Leemage

Die Aufzugtür neben der Hotelrezeption öffnet sich. Anthony Phelps steigt aus und hebt etwas ausdruckslos die Hand zum Gruß. Doch müde wirkt er eigentlich nicht, trotz des kleinen Lesemarathons, der ihn durch ganz Deutschland und nun auch nach Berlin führt. Der 88-jährige Autor aus Haiti mit Wohnsitz in Montréal stellt einen Roman vor, der bereits vor vierzig Jahren in Québec erschien und nun – viel zu spät, aber immerhin – erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Unter dem Titel „Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“

„Das Buch bekommt in einer Fremdsprache ein neues Leben, ich habe meine Zeit also nicht vergeudet“, sagt der umtriebige und mehrfach mit dem angesehenen Literaturpreis Casa de las Américas ausgezeichnete Autor. An einem Tisch im leeren Hotelrestaurant nimmt er Platz und stapelt Bücher aus seiner Tasche vor sich auf.

„Dieses hier ist ganz neu“, sagt er und zeigt auf einen blauen, quadratischen Band. „Je veille, incorrigible féticheur“ (Ich wache, unverbesserlicher Hexenmeister) steht auf dem Cover. „Noch im Juni werde ich es beim Marché de la Poésie in Paris signieren.“ Ein Teil jener Gedichtsammlung habe er in der Villa Waldberta in Feldafing geschrieben, wo er das Frühjahr 2014 im Rahmen einer Künstlerresidenz verbrachte. „Es war sehr schön dort, wenn auch ein wenig kalt.“

„Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“, das vor Kurzem auch in Frankreich neu verlegt wurde, liegt ebenfalls auf dem Tisch. Das Buch prangert den Diktator François Duvalier aka „Papa Doc“ und seine Tontons Macoutes an, jene äußerst gewalttätige Sicherheitsmiliz im Haiti der Sechziger und Siebziger, benannt nach dem Butzemann der kreolischen Volkstradition, der nachts durch die Straßen zieht und unartige Kinder in seiner Umhängetasche (macoute) verstaut. „Manche Re­dun­dan­zen waren damals erforderlich, aber jetzt, wo jeder weiß, was damals los war, musste ich den Text an manchen Stellen straffen. Er wirkte sonst zu geschwätzig.“

Anthony Phelps ist nicht gerade zimperlich beim Urteil über das eigene Werk. Genauso wenig rücksichtsvoll ist er mit seinem Protagonisten Claude umgegangen. Claude geht regelrecht durch die Hölle. Seit Wochen hält er sich auf seinem Balkon verschanzt. Von dort wacht er über Port-au-Prince, Haitis Hauptstadt, und den verlassenen Kindergarten gegenüber, in dem seine Schwester Yvonne vor dem Überfall der Tontons Macoutes arbeitete: Sie kamen, um die dort versteckten Kinder des oppositionellen Anwalts Colin zu entführen. Nun quält Claude die Frage: Wer konnte sie nur verraten haben?

Haïti Littéraire

Die Geschichte ist Anfang der sechziger Jahre angesiedelt, als die Brutalität der Tontons Macoutes völlig ausartet – eine entscheidende Zeit in Anthony Phelps’ Leben. „Ja“, bestätigt er, „das Buch spielt zur Zeit von Hai­ti littéraire“, jener literarischen Bewegung, die er mit vier befreundeten Autoren gründete: Serge Legagneur, Roland Morisseau, René Philoctète und Villard Denis aka Davertige. Sie alle hatten beachtliche Künstlerkarrieren und trugen zum Wiederaufleben der haitianischen Literatur bei, allerdings aus dem Exil.

Haiti littéraire stand der Parti d’Entente Populaire nah, der kommunistischen Partei Hai­tis, die 1959 vom Schriftsteller Jacques Stéphen Alexis gegründet worden war. Unter Duvalier wurden ihre Mitglieder gezielt verfolgt und massakriert.

Auch Anthony Phelps kam für drei Wochen ins Gefängnis, danach floh er 1964 aus Haiti. „Die Kameraden machten sich über mich lustig, denn ich war ja bloß in Polizeigewahrsam“ – und nicht in Fort Dimanche, wo grausam, oft tödlich gefoltert wurde, erinnert er sich mit einem leisen Lächeln. „Aber mir hat das schon gereicht. Danach bin ich bei jedem Bremsgeräusch auf der Straße zusammengezuckt. Es ging einfach nicht mehr, ich musste weg.“

Bis auf Davertige, der nach Paris floh, folgten die übrigen Gründungsmitglieder der Gruppe Phelps nach Montréal. Dort setzten sie ihre Treffen im Restaurant Perchoir d’Haïti fort. Der französische Name „Vogelstange“ spielt auf Claudes versteckten Beobachtungsposten auf dem Balkon hinter stummen Muskatnussbäumen an.

Zersplitterte Persönlichkeit

„Im Perchoir war es aber deutlich angenehmer“, sagt Phelps. In der Tat ergeht es Claude auf seinem Balkon nicht gut. Die Menschen, die mit ihm im Haus leben oder ihn besuchen – der Vater, die Mutter, die Dienerin, Paul, Yvonne –, sie alle scheinen Teile einer wirren Persönlichkeit zu sein, die durch Folter und Repression in Stücke zersplittert ist. Noch verbindet sie eine Treppe im Haus, die akribisch beschrieben wird. So akribisch wie die verwinkelten Ebenen seines gespaltenen Geisteszustands.

Auch wenn Claude von der sich ausbreitenden Resignation nicht verschont wird, in seiner Gedankenflut gelingen ihm Augenblicke hoher Hellsichtigkeit, in denen er die Diktatur und ihre Verbrechen verarbeitet und entmystifiziert. Doch der Wahnsinn siegt. In einem fieberhaften Moment der Rachsucht fantasiert sich Claude auf den Weg zum Nationalpalast, um den „Präsidenten auf Lebenszeit“ zu töten. Die Trennung zwischen Widerstand und Anpassung, Realität und Rausch, individuellem und kollektivem Scheitern verschwimmt.

„Wissen Sie, dass der 2010 vom Erdbeben zerstörte Natio­nal­palast wieder eins zu eins nachgebaut werden soll?“, fragt Phelps. Er schüttelt dann auch selbst den Kopf: „Das wird einen Haufen Geld kosten.“

Nach dem Tod des Präsidenten François Duvalier im Jahr 1971 übernahm sein Sohn Jean-Claude aka „Bébé Doc“ das Zepter, bis er schließlich 1986 gestürzt wurde. Seitdem reist Phelps wieder regelmäßig in die Heimat. Sein vergangenes Jahr unter dem Titel „Der Zwang des Vollendeten“ auf Deutsch erschienene Roman beschreibt, wie seine Versuche einer vollständigen Rückkehr aber letztlich scheitern mussten.

Auf Kosten der Bevölkerung

Ohnehin würde das Land weiterhin von einem Mauschler nach dem anderen regiert. „Alle, die in Haiti Präsident werden wollen, haben lediglich Macht und Geld im Sinn. Und mehr nicht.“

Seit seiner Entdeckung durch Kolumbus 1492 wurde an Haiti von allen Seiten so unablässig gezerrt, dass man sich fragt, wer an dem Land noch Interesse haben kann. „Ich glaube einige“, meint Phelps. „Steuern werden erhoben, es gibt weiterhin Möglichkeiten, Geschäfte im Plantagenbereich zu machen, und es gibt internationale Hilfen aus den USA, Frankreich, Deutschland und von den NGOs.“

Fluch oder Segen? „Fluch! Denn wer profitiert davon?“, fragt Phelps. „Die Hilfe kommt nicht uneigennützig, sondern wird immer von einem Tross begleitet, der sich mit den Hilfsgeldern große Häuser und dicke Jeeps mietet“, sagt er. Über die Geschäfte, die infolge des Erdbebens und auf Kosten der haitianischen Bevölkerung abgewickelt wurden und den sich nur mühsam organisierenden Widerstand, könnte Phelps einen Roman schreiben.

Auf die Frage, ob er die Entwicklung aktueller, auf Hierarchien und Leitfiguren verzichtenden Protestbewegungen wie zuletzt Nuit debout oder Occupy verfolgt, lehnt er sich einen Moment gelassen zurück.

Das Buch

Anthony Phelps: „Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“. Aus dem Französischen Ingeborg Schmutte. Litradukt, Trier 2016, 116 Seiten, 9,90 Euro.

„Zum Schreiben benutze ich nur meine zwei Zeigefinger“, antwortet er dann. „Aber das hier …“ – Phelps bewegt seinen Daumen, als würde er ein Smartphone bedienen –, „das kann ich nicht.“ Das Internet sei ein prachtvolles Instrument, das es den Menschen ermöglicht, sich ohne vertikale Struktur zu mobilisieren. Phelps lächelt. „Aber aus dem Alter bin ich raus.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!