HDP-Abgeordneter über Massaker: „Die Welt soll von Cizre erfahren“
Während der Ausgangssperren im kurdischen Cizre berichtete er über Twitter. Ein Gespräch mit dem HDP-Abgeordneten Faysal Sarıyıldız.
taz.gazete: Herr Sarıyıldız, wieso haben Sie die Türkei verlassen?
Faysal Sarıyıldız: Im Auftrag meiner Partei kam ich im Mai vergangenen Jahres nach Europa, um von den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu berichten, die ich in der Türkei beobachtet habe. Ich hatte nicht vor, lange zu bleiben. Allerdings wurde nach meiner Ausreise ein Haftbefehl gegen mich erlassen, woraufhin mir parteiintern empfohlen wurde, im Ausland zu bleiben. Derzeit arbeite ich an einem Bericht über die Geschehnisse in Cizre, die ich den Vereinten Nationen (UN) vorlegen möchte.
Können Sie Ihre Arbeit nicht in der Türkei fortsetzen?
Nein. Für den gegen mich erlassenen Haftbefehl gibt es keine gesetzliche Grundlage, außer die Absicht, meine Arbeit an diesem Bericht zu verhindern.
studiert Online-Journalismus an der TH Köln und setzt sich für Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Sie ist in Antalya geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland.
Geboren 1975 in Cizre/Şırnak, HDP-Abgeordneter. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl wegen der "Mitgliedschaft und Führung einer bewaffneten Terrororganisation" vor.
Welche Erwartungen hatten Sie, bevor Sie nach Europa kamen?
Ich war stark traumatisiert. Die ganze Welt sollte von den Gräueltaten erfahren, die ich beobachtet habe. Ich war wütend.
Warum wütend?
An mir haftet der Gestank von verbrannten Menschen. Während der zweiten Ausgangssperre in Cizre, die von Dezember 2015 bis März 2016 ging, wurden 143 Menschen bei lebendigem Leib verbrannt. Obwohl wir den Aufenthaltsort dieser Menschen an internationale Stellen wie die Vereinten Nationen, den Europarat oder die Europäische Union weitergegeben haben, konnte dieser Vorfall nicht verhindert werden. Deshalb bin ich wütend.
Die Massaker in Cizre werden trotz der Berichte zahlreicher Menschenrechtsvereine von der türkischen Regierung abgestritten. Worauf stützt sich dieses Leugnen?
Ich denke, es stützt sich an die passive Haltung der Vereinten Nationen. Erst als sie der Überzeugung waren, dass Erdoğan sich auch für sie zu einer Bedrohung entwickelt, veröffentlichten sie eine verspätete Erklärung. In dieser äußern sie, es würden glaubwürdige Berichte vorliegen, wonach mehr als 100 Menschen verbrannt wurden. Sie forderten die Untersuchung und Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen, allerdings wurde diese Forderung von der türkischen Regierung ignoriert.
In gewisser Weise ist dies ein Schuldeingeständnis. Ich denke, dass sich Europa und andere Weltmächte in Bezug auf die Türkei irren. Die Menschen zeigen sich besorgt wegen der Millionen Menschen, die nach Europa flüchten und glauben, diese seien ein Sicherheitsrisiko. Dabei ist Europa nicht bereit für eine außer Kontrolle geratene Terrororganisation wie den sogenannten “Islamischen Staat“ (IS). Die Lösung liegt darin, Erdoğans Erpressungen nicht stillschweigend hinzunehmen, sondern Sanktionen auszusprechen.
Von welcher Art Sanktionen sprechen Sie?
Die UN und USA müssen alle ihnen zur Verfügung stehende Mittel nutzen, damit die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in Kurdistan aufgeklärt und die Schuldigen verurteilt werden.
Es gibt Zeugen, die behaupten, dass sich unter den Polizisten, die zum Einsatz nach Cizre geschickt wurden, IS-Sympathisanten, sogar Anhänger befanden. Wie schätzen Sie das ein?
Die Ideologie des IS und die Argumente, auf die die AKP-Regierung zurückgreift, sind ähnlich. Polizisten und Soldaten, die als Söldner angeheuert werden, beginnen ihre Einsätze mit dem kollektiven Ausruf “Allahu ekber“ (zu deutsch: “Gott ist groß“, Anm.d.Red.), den sie auch auf Häuserfassaden schmieren. Hinter diesen Aktionen steckt eine dschihadistische Motivation. Das Verbrennen unserer Leute bei lebendigem Leib haben wir auch beim sogenannten IS erlebt, der türkische Soldaten auf diese Weise ermordet hat.
Wie einflussreich ist die HDP noch, deren Vorsitzende und zahlreiche Abgeordnete verhaftet wurden?
Derzeit befinden sich fast 95 Prozent unserer Parteimitglieder in Haft, viele mussten das Land verlassen. Alle übrigen geraten nun auch ins Visier. Auch diejenigen, die zum Beispiel versuchten, Einrichtungen wieder aufzubauen, die bei den Ausgangssperren zerstört wurden, sitzen nun in Untersuchungshaft. Unser Einflussbereich ist inzwischen deutlich begrenzt.
Glauben Sie, dass eine Regierung, die verhindert, dass eine Partei wie die HDP politisch agiert, die PKK stärkt?
Ich glaube, diese Folgerung ist so nicht richtig. Ja, ein großer Teil unserer Basiswählerschaft sympathisiert gleichzeitig mit der PKK, allerdings sind wir eine andere Organisation und wir führen unsere Auseinandersetzung mit legalen Mitteln der Politik.
Glauben Sie an die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen?
Ich bin zwar nicht mehr so optimistisch wie früher, allerdings glaube ich, dass wir gar keine andere Wahl haben, als die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Aus Angst vor den Konsequenzen seiner Verbrechen stellt Erdoğan seine Herrschaft über die Friedensverhandlungen.
Am 17. Dezember 2016 wurden in vielen Städten der Türkei dutzende Einrichtungen der HDP angegriffen, nachdem die kurdische Miliz TAK sich zu dem Anschlag auf das Beşiktaş-Stadium in Istanbul bekannt hat. Wie erklären Sie sich das?
Der Zorn, der sich gegen die HDP richtet, zeigt, wie hilflos und manipulierbar die Menschen sind. Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, aber ihr Fundament ist auf Rassismus und dem sunnitischem Islam aufgebaut. Mit seiner Märtyrer-Rhetorik und den Todesverherrlichungen hält Erdoğan Feindbilder aufrecht und schafft es in diesen Tagen, die Massen zu mobilisieren.
Ist allein die AKP-Regierung verantwortlich dafür, dass der HDP vorgeworfen wird, sich “nicht ausreichend von der PKK distanziert“ zu haben?
Viele Menschen glauben nicht mehr an die Möglichkeit demokratischer Politik, da selbst Abgeordnete im Gefängnis landen. Sie denken, gegen ein System, von dem Repressionen und Gewalt ausgehen, könne man nur noch mit Waffengewalt vorgehen. Das Ausmaß der Repressionen wird aber in der Öffentlichkeit nicht so sehr thematisiert wie die Anschuldigungen gegen die HDP.
Sind die Anschuldigungen also nicht berechtigt?
Nein, sind sie nicht. Die HDP ist eine Partei, die sich stets gegen den bewaffneten Kampf ausgesprochen hat und so wird es auch in Zukunft sein. Kurden beteiligen sich seit nahezu 30 Jahren demokratisch an politischen Prozessen im Parlament, doch sie werden seit den neunziger Jahren immer wieder mit demselben Vorwurf konfrontiert.
Gibt es auch Fehler, die die HDP in der Vergangenheit begangen hat?
Wir hätten nach den Wahlen am 7. Juni 2015 der AKP nicht den Platz überlassen dürfen und ihnen somit die Gelegenheit geben, diesen Krieg zu ermöglichen. Wir hätten härter arbeiten und vehementer ihr Vorgehen anprangern müssen. Darüber hinaus denke ich, dass wir die Wut der Menschen auf das gewalttätige Vorgehen der AKP nicht genügend kanalisieren konnten.
Einige deutsche Bundestagsabgeordnete haben ein Programm zur Solidarität mit in der Türkei verfolgten und verhafteten Abgeordneten ins Leben gerufen. Gab es konkrete Maßnahmen im Rahmen dieses Programms?
Ja, die gab es. Schon vor den Verhaftungen haben sich Parteikollegen aus Deutschland, insbesondere aus dem linken Spektrum, mit uns in Verbindung gesetzt. Nach der Verhaftung unseres Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und anderer Abgeordneter sind einige Delegationen in die Türkei gereist, jedoch wurden sie daran gehindert, die Verhafteten im Gefängnis zu besuchen. Kollegen der Parteien Die Grünen, Die Linke und der SPD haben angekündigt, an den Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.
Die CHP (Republikanische Volkspartei) sollte in das Programm miteinbezogen werden, allerdings zeigten einige Mitglieder Zurückhaltung, als sie erfuhren, dass die HDP involviert ist. Glauben Sie, dass die CHP nicht realisiert, dass nach der HDP auch sie von den Repressionen betroffen sein könnten?
Die CHP und deren Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu sind mitverantwortlich für das momentane Chaos. Sie haben die Aufhebung der Immunität unserer Abgeordneten und damit die aktuelle Situation ermöglicht. Was nicht bedeutet, dass alle CHP-Abgeordneten diesen Prozess befürworten. Einige Parteikollegen erklärten, dass die Entscheidung zur Aufhebung der Immunität ohne eine Absprache mit ihnen fiel.
Nach Ihrer Ernennung zum Ehrenbürger durch Frankreich wurden Sie durch regierungsnahe Kreise stark angefeindet. Sind solche Angriffe noch erschöpfend für jemanden, der versucht, Widerstand zu leisten?
Verleumdungen sind für jeden Menschen eine schwere Herausforderung. Allerdings stützt sich die Verlautbarungspolitik von regierungsnahen Kreisen auf Lügen. In Anbetracht der Schwere ihrer Kriegsverbrechen fallen solche Verbalattacken nicht besonders ins Gewicht. Daher schenkt unser Volk solch infamen Anschuldigungen keine Beachtung.
Fühlen Sie sich in Deutschland sicher?
Nein. Es gab bereits Drohungen gegen unsere hiesigen Einrichtungen und wir wissen, dass die Türkei hunderte Geheimdienstagenten hierher schickt. Allerdings kann ich nach allem, was ich erlebt habe, nicht an mich oder meine persönlichen Ängste denken. Egal, was passiert, ich werde nicht aufhören, der Welt die Wahrheit zu berichten.