Guter Appetit: Die Angst des Schäfers
Stefan Rose züchtet Schafe im Heidekreis bei Walsrode. Einige seine Tiere fielen schon dem Wolf zum Opfer.
Was Schafzüchter Stefan Rose hier schildert, ist kein Versuch, eine Sequenz aus „The Walking Dead“ nachzustellen, sondern ein Szenario, wie es sich ihm nach einem Wolfsangriff auf seine Schafherde bot. Bilder, die er kaum wieder aus dem Kopf bekommt.
Nicht dass ihn der Tod und das Töten als Voraussetzung der fleischlichen Ernährung schockieren würden. Er ist selbst Schlachter und knipst mehrmals die Woche mit einer Elektrozange auf seinem Hof das Gehirn einiger seiner Tiere aus. Dann kann er einen Halsstich sicher ausführen, sie ausbluten lassen und zerteilen. Rose verkauft das Fleisch auf Bestellung, Freitag und Samstag auch frisch oder als Wurst in seinem Hofladen. Aber leiden sehen, das kann er seine Tiere nicht. Und das hat er nach der Wolfsattacke sehen müssen. Oder waren es Hunde? „Nein, der benachrichtigte Wolfsberater konnte mit DNA-Untersuchungen eindeutig den Wolf als Täter feststellen.“
Kein Einzelfall. Nach Angaben der Landesjägerschaft streifen derzeit rund 150 Wölfe durch niedersächsische Wälder. Das Wolfsmonitoring der Naturschutzbehörde belegt mittlerweile 15 Rudel. Tendenz steigend. Denn sie haben keine natürlichen Fressfeinde und vermehren sich rasch. Wölfinnen bringen jährlich etwa ein halbes Dutzend Kinder zur Welt.
Fast immer sind die Opfer Schafe
Parallel dazu werden immer mehr Nutztiere getötet aufgefunden. „Die Zahl der Wolfsrisse hat sich in Niedersachsen von 2013 bis 2017 von 13 auf zuletzt 144 mehr als verzehnfacht“, teilt der Bauernverband Landvolk mit. Für das erste Quartal dieses Jahres weist die Statistik bereits über 80 Fälle aus. Selten sind Rinder, fast immer Schafe die Opfer. „Ich verstehe das ja“, sagt Rose, „der Wolf hat halt auch Hunger.“ Etwa zwei bis drei Kilogramm reines Fleisch braucht er für seinen täglichen Energiebedarf.
Aber wie die Lebensmittel besorgt werden, ist exemplarisch unkultiviert und die dabei an den Tag gelegte Zahlungsmoral schlicht desaströs. Deswegen fürchtet Rose um sein Geschäft. Denn ein Wolfsüberfall habe auch Spätfolgen. Die Geburtenrate seiner Schafe sinke und vermehrt kämen Lämmchen tot zur Welt.
Ein Berufszweig in Angst? Oder wird mit dem Reizthema Wolf kaschiert, dass die ökonomische Situation der Schäfer bundesweit als prekär gilt?
Idyllisches Setting
Grethem im Heidekreis: Das Setting wirkt idyllisch, 600 Menschen wohnen dort in lockerer Schüttung. Die Anwesen rechts und links der Durchfahrtstraße sind schmuck hergerichtet, drei Höfe werden noch landwirtschaftlich genutzt: Einer öffnet sich als Blaubeerenoase den Touristen, um Schweinefleischnachschub kümmert sich ein anderer, und dann ist da eben noch Roses Schäferhof auf dem Gelände eines ehemaligen Salzbergwerks. Birken wuchern auf der Abraumhalde. Hunde tollen, Ziegen machen Mäh, Schafe trotten herum. Neben der Einfahrt mümmeln Pferde Heu in sich hinein. „Die sind für meine Frau, wenn die mal ausreiten will“, sagt Rose.
1982 hatte sein Vater neben dem Ackerbau mit der Schafzucht als Hobby angefangen, und der damals zweijährige Stefan war sofort von diesen Tieren fasziniert. Hat später Wasserbauer gelernt, aber bald gemerkt, dass er zurückmuss in die Natur, zum wolligen Getier. Weil sich kein „ordentlicher Ausbildungsbetrieb“ fand, fing er einfach ohne Meisterbrief an, heute nennt er 1.300 Mutterschafe und 16 Böcke sein Eigen. Die zeugen jährlich etwa 1.700 Lämmer. Auch etliche Heidschnucken gehören dazu.
Roses Schafe befinden sich auf den Deichen der Leine und der Aller, wo zwei etwa 100-köpfige Herden das Gras kurz halten und trampelnd den Boden verdichten. Rose hat dort die komplette Bewirtschaftung übernommen, sammelt Müll, mäht nach, düngt und kümmert sich um die Grasnarbe. Die übrigen Tiere gehen ihrer naturpflegerischen Arbeit an der Nordseeküste bei Norddeich nach. „Zu verdienen ist da nichts“, sagt der Schäfer. Es gebe Zuschüsse für den Deichschutz, gleichzeitig müsse man Pacht zahlen für einen etwa 15 Kilometer langen Abschnitt. Ein Plus-minus-Null-Geschäft. „Aber meine Schafe bekommen dort kostenlos sehr gutes Futter, deswegen machen wir das. Außerdem ist die Haltung dort sehr einfach, ich muss nur einen Angestellten dafür abstellen.“
2.000 Schafe im Jahr geschlachtet
In Grethem kümmern sich Rose, seine Frau, seine Mutter und ein weiterer Angestellter um die Tiere und die Vermarktung ihrer Produkte. „Mit dem Fleisch lassen sich 100 bis 150 Euro pro Schaf verdienen. Wir kaufen da auch noch zu und schlachten pro Jahr so 2.000 Tiere.“ Und die Haare? „Die sind ein Minusgeschäft. Für die Wolle aller meiner Schafe habe ich dieses Jahr 1.000 Euro bekommen – und bezahlt habe ich für jede Schafschur 2,50 Euro.“ Also insgesamt 3.300 Euro. „Aber man muss die Schafe halt scheren für den Sommer.“
Rose erklärt, von Lamm- und Schafverkäufen sowie EU-Subventionen zu leben. „Unser Umsatz ist riesig, übrig bleibt aber wenig. Wenn ich die Arbeitszeit meiner Sieben-Tage-Wochen hochrechne, täglich von 7 bis 21 Uhr, komme ich nicht auf den Mindestlohn.“ Deswegen sei der Job für viele auch nicht reizvoll. Seine Stellenausschreibung für einen weiteren Schäfer habe bisher null Resonanz gehabt. Es gebe kaum Fachkräfte. Und ein Nettolohn von gut 1.500 im Monat wirke bei den üppigen Arbeitszeiten vielfach nicht wirklich verlockend.
Der Wolf macht die Situation nicht besser. „Wenn er zehnmal im Jahr kommt und sich jedes Mal ein Schaf holt, dann ist das okay“, sagt Rose. „Aber wir hatten in den letzten zwei Jahren schon vier Übergriffe des Wolfes und haben dabei 32 Schafe und 44 Lämmer verloren.“ Trotzdem droht ihm nun nicht die Pleite. Es gab Entschädigungen. „Der herbeigerufene Wolfsberater hat geguckt, ob das wirklich der Wolf war und ob wir die Schafe vorschriftsmäßig mit einem 90 Zentimeter hohen, mindestens 2000 Volt Strom führenden Zaun geschützt haben. Beides traf zu, deswegen bekam ich für jedes tote Schaf über 100 Euro vom Land.“ Das ist der Marktpreis. „Ja, das ist okay.“
Aber die Arbeitszeit entschädige keiner – beispielsweise um die Spuren des Gemetzels zu beseitigen und die Gegend abzusuchen nach allen toten Schafen. Das dauere schon mal drei Tage. Sei aber wichtig. Wenn ein Kadaver auf einem Feld liegen bleibe und nach dem Mähen inklusive des Leichengifts ins Silo eines Bauern komme, müsse anschließend aufwändig entsorgt werden.
Von Berufs wegen gegen den Wolf
Rose ist nicht Jäger des Wolfes, sondern Hüter der Schafe: „Der Wolf ist nicht mein Feind. Aber dass ich was gegen ihn habe, bringt mein Beruf mit sich. Ich habe ihn nicht bestellt und brauche ihn auch wirklich nicht. Aber jetzt ist er nun mal wieder da und ja auch ein Tier, das eine Daseinsberechtigung hat.“
Hat er schon einmal einen gesehen? „In freier Wildbahn nur einmal, Gott sei Dank, mir reicht das.“ Der Wolf gilt als scheu. Begegnungen von ihm und Menschen sind daher selten – Übergriffe gar nicht bekannt. Dafür sind Hunde zuständig. Bis zu 40.000 Bissverletzungen des angeblich liebsten Freundes der Menschen müssen jährlich in Deutschland behandelt werden, schreibt das Ärzteblatt.
Aber wie können Schafe vorm Wolf geschützt werden? Täglich baut Rose 40 Elektrozäune à 50 Meter Länge und 90 Zentimeter Höhe für die Schafe auf den Deichen auf und wieder ab, je nach Wetterlage werden 3.000 bis 9.000 Volt Strom hindurch geschickt. „Das hilft aber ja nur, dass die Schafe nicht weglaufen“, erklärt Rose, „das ist kein Wolfsschutz.“ „Der springt da rüber oder buddelt sich unter durch.“
Stefan Rose, Schäfer
Deswegen kauft der Schäfer jetzt 1,06 Meter hohe Zäune. Und zieht oben noch ein Flatterband drüber, damit die Installation noch größer wirkt. Was jeden Tag zwei Stunden mehr Arbeit bedeute. „Das hilft vielleicht ein Jahr. Denn der Wolf wird trainieren und auch dort rüberkommen. Der sieht ja nicht nur fantastisch aus, der ist ja leider auch ein ganz schlaues, äußerst lernfähiges Tier.“
Noch höhere Zäune aufzustellen, ist von Rose und seinem Kollegen in Grethem kein Thema. „Die sind einfach zu schwer. Wenn ich 1,60 Meter hohe Netze nutze, müsste ich zum Tragen und Aufstellen mindestens vier Leute einstellen, das kann ich nicht finanzieren.“ Schon die kleinen Elektrozäune kosten etwa 70, 80 Euro pro Stück, Rose hat etwa 200 davon anschaffen müssen.
Zu 80 Prozent wurden die Kosten vom Land Niedersachsen ersetzt. Reparaturen und Ersatz muss er bezahlen. Wäre es in dieser Situation nicht besser, aufs Einpferchen zu verzichten? Der Wolf tritt doch in die Absperrung wie in einen Speisesaal und erklärt das Schafbüfett für eröffnet. Ohne Zäune könnten die Tiere bei Gefahr fliehen, eingezäunt sind sie als hilflose Opferlämmer dem Eindringling als leichte Beute ausgeliefert. „Gute Idee, aber dann muss jeden Tag 24 Stunden lang einer bei jeder Herde sein, auch das kann ich mir nicht leisten.“
Gefahr durch Schutzhunde
Eine weitere Hilfe sind Schutzhunde. „Aber das geht bei uns nicht, es ist zu eng, wo meine Schafe grasen, da gehen immer Menschen mit ihren Hunden direkt vorbei und so entsteht die Gefahr, dass die angegriffen werden. Da frisst der Herdenschutzhund schon mal den kleinen Pfiffi oder geht sogar den Hundebesitzer an.“ Man könnte es ja trotzdem einfach mal versuchen? „Im Winter habe ich meine Schafe hier in sechs Herden laufen, bräuchte dann für jede zwei Herdenschutzhunde, die kosten 2.000, 3.000 Euro. 80 Prozent davon würde wieder das Land übernehmen, aber Folgekosten wie Futter und Versicherung muss ich tragen.“
Und dann sei das finanziell wahrscheinlich nicht machbar. Überhaupt: „Auch die Tierarztrechnung für verletzte Schafe wird zu 80 Prozent übernommen. Aber wenn der Wolf nicht da wäre, müsste ich die ganzen restlichen 20 Prozente ja nie zahlen, bräuchte keine hohen Zäune und Herdenschutzhunde.“ Deswegen fordert Rose eine stets komplett 100-prozentige Entschädigung und einen Ausgleich für die durch Übergriffe und Vorsorge bedingte Mehrarbeit.
Wäre es nicht einfacher, die Wölfe gar nicht erst wieder heimisch werden zu lassen – also abzuschießen? „Alle ausrotten, das fordern andere Schäfer. Ich will nur, dass es nicht so viele werden. Ihre Zahl und damit die der Übergriffe darf nicht mehr, sondern muss weniger werden. Dann können wir uns damit arrangieren.“ Dann sei Weidetierhaltung und Artenschutz vereinbar. „Bei mir war es allerdings bereits zweimal derselbe Wolf, der die Schafe gerissen hat. Der ist daher ein Problemwolf. Solche sollten der Natur entnommen und dafür müssen Grundlagen geschaffen werden.“
Derzeit sind Wölfe nach der EU-Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie eine streng geschützte Art und dürfen nicht gestört, gefangen oder getötet werden. Die Bundesregierung hat allerdings im Koalitionsvertrag „die notwendige Bestandsreduzierung“ als Ziel formuliert.
Gibt es nicht alternative Wege, den Wölfen beizubringen, von Nutztieren die Beißerchen zu lassen und sich lieber auf Wildschweine zu stürzen, davon gibt es doch überreichlich? Oder sind die nicht so lecker? „Vor denen hat der Wolf Angst, die sind schnell und wehrhaft“, sagt Rose. „Meinetwegen kann der Wolf ja auch nach Grethem kommen, wenn er uns in Ruhe lässt.“
Inbegriff der Grausamkeit
Nur leider liege das nicht in der Raubtiernatur dieses schönen Tieres, das Urängste fördert. Ist der Wolf doch Inbegriff von Grausamkeit, Gefräßigkeit und Gier – und damit auch Verweis auf die abgründig unzähmbare Seite jedweden Lebens. Hat ja auch mal sechs Geißlein sowie Großmutter und Rotkäppchen verschlungen.
Viele solcher Schauermärchen existieren, aber der Wolf ist kein Monster. So wie auch viele Kalender und Poster mit Wolf-Mannequins verkauft werden, aber der Wolf auch kein Kuscheltier ist. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammentreffen von Wolf und Lamm, von Wolf und menschlicher Kultur wird immer ein Traum bleiben. Ökosysteme bestehen aus Konkurrenten um Nahrungsquellen.
Dass Rose diese Tatsache nicht romantisierend weglügt, nehmen ihm manche vor Ort übel. „Militante Wolfsbefürworter verunglimpfen mich im Internet“, sagt er und verweist auf die Facebookseite „Heidekreis Klatsch und Tratsch“. Auch würden Lügen in den Umlauf gebracht, „dass wir im Schlachtbetrieb schächten, und schon bleiben meine Kunden weg, das geht gar nicht.“
So ist Rose geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie schwierig es ist, heutzutage als Schäfer zu leben und mit der emotional geführten Wolfsproblem-Debatte differenziert umzugehen – trotz Blutrauschbildern im Kopf.
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