Gruppe für Angehörige nach Suizid: Wenn der Abschied fehlt
Bei Agus e.V. treffen sich Menschen, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben. Hier können sie über ihre Gefühle sprechen.
Schräg gegenüber gehe es zur Selbsthilfegruppe, sagt die junge Frau am U-Bahnhof Rohrdamm, sie wolle da auch hin. Sie zeigt auf das Schild auf der anderen Straßenseite, „Bestattungen“ steht in schwarzen Buchstaben darauf. Daran könne sie sich vom letzten Mal noch erinnern, sagt sie und lacht trocken. Dass man ausgerechnet an einem Bestattungsinstitut vorbei muss.
Die junge Frau streicht die langen Haare aus dem Gesicht, ihre Augen sind mit Kajal geschminkt. Sie war schon einmal beim Treffen der Selbsthilfegruppe für Angehörige nach Suizid, erzählt sie auf dem Weg in die Nebenstraße. Andere hätten viel geredet, sie selbst eher wenig. „Diese ganzen Geschichten zu hören, hat mich echt runtergezogen“, sagt sie. Möglicherweise war der Suizid ihres Mannes einfach noch zu frisch. Vier Wochen zuvor hatte er sich das Leben genommen. Jetzt, mit fünf Monaten Abstand, will sie es noch einmal probieren mit der Gruppe. Vielleicht bringt ihr das Treffen ja doch etwas.
An jedem zweiten Montagabend im Monat kommen Menschen, die eine ihnen nahestehende Person durch Suizid verloren haben, zum offenen Treffen im Selbsthilfetreffpunkt Siemensstadt zusammen und tauschen sich aus. Mal sind es nur eine Handvoll, mal zwei Dutzend. Einige nehmen regelmäßig teil, andere sporadisch. Im Schnitt sei ungefähr ein Drittel jeweils zum ersten Mal dabei, sagt Patricia Gerstendörfer vom Verein Agus (Angehörige um Suizid), sie organisiert die Treffen.
Die Zahl der Selbsttötungen ist in Deutschland seit den 80er Jahren deutlich zurückgegangen und liegt nun bei jährlich etwa 10.000. Im Jahr 2015 haben sich in Berlin laut Amt für Statistik 470 Menschen das Leben genommen, 1,4 Prozent aller Verstorbenen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum waren 2,3 Prozent der Verstorbenen Opfer von Unfällen. Laut dem „Nationalen Suizid Präventionsprogramm“ sind von jedem Suizid im Schnitt mindestens sechs Angehörige betroffen – das wären in Berlin allein 2015 rund 2.800 Menschen. Sie alle müssen irgendwohin mit ihrem Schmerz, ihren Gefühlen. Trotzdem kommt nur ein Bruchteil von ihnen im Hilfesystem an.
An diesem Montag im Juni sitzen neben der jungen Frau mit den langen Haaren noch etwa 20 andere im Stuhlkreis, Ältere und Jüngere, viele Frauen. Auf den Tischen am Rand stehen Tee und Bonbons, friedliche Landschaftsbilder hängen an den Wänden: Bäume, ein Steg in der Abendsonne. Weil sie die Angebote bekannter machen will, hat Gerstendörfer eingewilligt, dass ich beim Treffen dabei bin. Auch die Teilnehmenden stimmen dem zu – vorausgesetzt, ihre Namen sind im Artikel geändert.
Im Uhrzeigersinn
Gerstendörfer, eine schwarz gekleidete, schmale Frau, bittet zunächst alle um Achtsamkeit. In ihrem Hauptberuf ist sie Sonderpädagogin. Nach dem Suizid ihres Lebensgefährten ging sie als Teilnehmerin zu den Agus-Treffen, 2010 übernahm sie selbst die Gruppe. Sie machte eine Ausbildung als Trauerbegleiterin und Traumatherapeutin. In der Runde spricht sie mit ruhiger Stimme. Jeder könne berichten, was ihm geholfen habe, sagt sie. Andere zu einem bestimmten Verhalten aufzufordern, sei aber nicht sinnvoll. „Die Erfahrung zeigt, dass das überfordernd sein kann. Jeder Fall ist anders.“ Und während draußen die Stadt in den sommerlichen Feierabend geht, erzählen sie drinnen im Uhrzeigersinn, was ihnen widerfahren ist.
Eine Teilnehmerin
Zum Beispiel Gabriele. Sie hat ein gerahmtes Foto vor sich auf den Tisch gestellt, es zeigt eine hübsche junge Frau mit Blumen im Haar. Vor zwei Monaten habe sich ihre Tochter das Leben genommen, erzählt sie und beginnt zu schluchzen. Es dauert einen Moment, bis sie sich wieder fasst. Ihre Tochter habe sich selbst Schizophrenie diagnostiziert und habe Angst gehabt, bei einer Behandlung nicht mehr selbstbestimmt zu sein, sagt Gabriele. Sie habe das alles in Tagebüchern aufgeschrieben. Gabriele sagt: „Mir tut so leid, dass wir ihr nicht helfen konnten.“
Neben ihr sitzt eine Jüngere mit dunklen Haaren und Tattoos, Juna. Sie war mit ihrem Freund nach Übersee ausgewandert. 2016 fand sie ihn tot in der gemeinsamen Wohnung. Sie kehrte nach Berlin zurück. Sie könne bis heute nicht arbeiten, sagt sie. „Umso schöner das Wetter, umso beschissener geht es mir.“
Die junge Frau mit den langen Haaren ist an der Reihe, sie stellt sich als Kathrin vor. Sie redet leise, erzählt knapp, dass sie mit ihrem Mann nach Süddeutschland gegangen war. Sechs Wochen habe es gedauert von den ersten Symptomen seiner Depression bis zum Suizid. Nach dem Tod ihres Mannes zog auch sie zurück nach Berlin. „Es ist gut, weg zu sein von dem Ort, wo es passiert ist.“ Andere nicken.
Michael, ein großer Mann in Turnschuhen, spricht über das Geschehene, als habe er schon viel Abstand dazu. Dabei hat sich sein Partner erst vor drei Monaten das Leben genommen. Sein Freund sei schon lange depressiv gewesen, er habe alles vorbereitet, sogar die Einladungskarten für die Trauerfeier adressiert, erzählt Michael. Jetzt meldeten sich Erben, mit denen er sich herumstreiten müsse. Anders als Kathrin möchte Michael in seiner Wohnung bleiben. „Ich will ihn nicht im Nachgang noch bestimmen lassen, wann ich zu gehen habe“, sagt er.
Es klingt weniger Trauer in seiner Erzählung mit als Wut: über die Entscheidung des anderen, die eigene Ohnmacht.
Es gibt mehrere Selbsthilfegruppen von Agus e. V. (Angehörige um Suizid) in Berlin: Eine Gruppe, die allen Betroffenen offen steht, trifft sich immer am zweiten Montagabend im Monat, das nächste Mal am 9. Juli, von 19–21 Uhr. Die Selbsthilfegruppe für junge Erwachsene trifft sich an jedem vierten Montagabend im Monat, das nächste Mal am 23. Juli von 18–20 Uhr. Ort ist jeweils der Selbsthilfetreffpunkt Siemensstadt, Wattstraße 13, 13629 Berlin. Für eine Elterngruppe muss man sich über die Homepage anmelden.
Zusätzlich zu den Selbsthilfegruppen gibt es auch das Angebot einer angeleiteten Gruppe für Suizid-Hinterbliebene, zu der man sich ebenfalls anmelden muss. Die Treffen finden am Wochenende statt. Weitere Informationen unter berlin.agus-selbsthilfe.de.
Auch beim Verein „Angehörige psychisch Kranker“ gibt es eine Selbsthilfegruppe für Angehörige nach Suizid, die Treffen finden jeden dritten Freitag im Monat von 17–19 Uhr in der Selbsthilfekontaktstelle Mittelhof statt, Königsstraße 42–43 in Zehlendorf.
Die Telefonseelsorge bietet persönliche Gespräche oder Spaziergänge für Hinterbliebene nach Suizid an und gründet auch eine Gruppe. Bisher gibt es Beratungen auch auf Türkisch und Farsi, Arabisch soll bald dazukommen. Mehr Infos unter besu-berlin.de oder telefonisch unter (030) 62 73 27 34. (all)
Das ist auch bei Juna so, der Auswanderin, die noch mal das Wort ergreift. Sie habe früher nie ihren Glauben verloren, erzählt sie. „Aber jetzt ist alles weg, mein ganzes Ich.“ Es hört sich bitter an, wenn sie über ihren Freund spricht: „Keine Ahnung, ob seine Seele weiterlebt. Ganz ehrlich: Wenn seine Seele weiterlebt, dann soll sie verrotten.“ Sie sei so furchtbar wütend, fühle sich „verarscht“. „Das, was er mir hinterlassen hat, was er mir angetan hat, das werde ich ihm nicht verzeihen.“
Mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen klarzukommen, ist nach Suiziden oft komplizierter als nach anderen Todesfällen. Wut oder Schuldgefühle überdecken häufig die eigentliche Trauer. Dass dieser Mensch so plötzlich weg ist und es keinen Abschied gab, macht es für Angehörige zusätzlich schwer. „Das Gefühl der Schuld ist gerade bei vielen Eltern besonders groß“, hat Patricia Gerstendörfer vor der Sitzung am Telefon gesagt.
Der Verein Agus bietet derzeit mehrere Selbsthilfegruppen für Betroffene an: eine offene, eine für Eltern und eine für junge Erwachsene, die noch im Aufbau ist (siehe Kasten). Gerstendörfer glaubt, dass neben den Selbsthilfegruppen auch die Einzelberatung wichtig ist. Sie will noch in diesem Jahr einen Verein gründen, um eine Beratungsstelle einzurichten. „Den größten Wunsch, den Verstorbenen zurückzubringen, kann keiner erfüllen.“ Aber es helfe, die Schuldgefühle zu bearbeiten, über die Wut zu reden.
Im Gruppengespräch hält sie sich zurück. „Die, die da sind, passen aufeinander auf und gestalten das. Die Gruppe trägt sich weitestgehend selbst“, erklärt sie das Konzept.
Tatsächlich reagieren an diesem Montagabend andere TeilnehmerInnen auf Junas Wut. „Es wird keiner von uns eine Antwort kriegen auf das Warum“, sagt Kathrin. „Ich selbst denke, ich kann meinem Mann nicht böse sein. Das war nicht er, der da gegangen ist. Er hätte mich nicht allein gelassen.“ Auch ein Mann mit weißem Dreitagebart sagt: „Ich verzeihe meinem Sohn, dass er so wahnsinnig krank war.“ Ein anderer schaltet sich ein und bittet darum, nicht auf Juna einzureden. Das sei auch nicht seine Absicht gewesen, erklärt der mit dem Dreitagebart. „Die Fälle ähneln sich, aber sie sind alle auch unterschiedlich.“
„Wie konnte das passieren?“
Auch Margret ergreift an diesem Abend mehrmals das Wort, eine rundliche Ältere mit englischem Akzent. Sie hat ihre Tochter 2004 verloren. „Wir hatten eine so tiefe Beziehung. Wie konnte das passieren?“, habe sie sich gefragt. Sie erzählt von Depressionen, die sie selbst nach dem Suizid hatte, von der Trennung von ihrem Mann. Margret war früher schon öfter in der Gruppe. „Ich bin wieder hier, um anderen zu sagen: Damals hätte ich nicht geglaubt, dass ich das Leben wieder leben kann. Aber es gibt Hoffnung.“
Es helfe ihr, das zu hören, sagt die junge blonde Frau neben ihr. Nach dem Suizid ihres Lebensgefährten sei sie aber noch lange nicht so weit. „Ich kann mich selbst oft nicht richtig fühlen. Ich sehe auch meine Zukunft nicht.“
Nach dem Gruppengespräch steht Kathrin noch mit ein paar Teilnehmern zusammen. Sie wirkt gelöst. Das Treffen habe ihr besser gefallen als das letzte Mal, sagt sie. „Ich habe auch mehr gesagt.“ Die Trauer komme in Wellen, erzählt sie. Zwischendrin gehe es ihr immer wieder erstaunlich gut. Sie treffe sich mit Freunden, habe auch Spaß. Sie hebt fragend die Schultern: „Der große Knall, vielleicht kommt der noch.“
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