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Grüne KandidatensucheFlieg, Jürgen, flieg!

Wer wird Spitzenkandidat? Bei den politisch korrekten Grünen ist das eine hochkomplexe Frage. Zum Glück hilft der Partei das Sozialverhalten der Wildgänse.

Wer wird die Leitgans? Die Grünen haben haben mehr mit Wildgänsen gemeinsam, als man denkt. Bild: ap

Grüne wie Jürgen Trittin oder Claudia Roth haben mehr mit Wildgänsen gemeinsam, als man denkt. Ihr Sozialverhalten ist komplex. Sie sind hochintelligent, kennen die Vögel ihrer Kolonie sehr genau und wissen, wer mit wem verbandelt ist. Außerdem denken Wildgänse außerordentlich ökologisch. Sie fliegen in V-Formationen im Himmel, um ihren Gänseschmalz effizient zu nutzen.

Die Ehre, diese frappierenden Übereinstimmungen als erste erkannt zu haben, gebührt Renate Künast. Als die Grünen 2002 Joschka Fischer in den Wahlkampf schickten, ihm aber ein Team aus 6 (sechs!) anderen Spitzengrünen zur Seite stellte, begründete Künast das den verwirrten Journalisten so: "Wissen Sie, wie Wildgänse ihr fernes Ziel erreichen? Im Formationsflug."

In Wirklichkeit steckte hinter der Personalhäufung natürlich nicht der Erfolg der Wildgans, der unbestritten groß ist. Nein, es ging um Proporz: Beide Parteiflügel mussten kandidatenmäßig bedient werden, ebenso die Geschlechter. Indem die politisch korrekte Partei gleich sieben Wahlkämpfer einsetzte, vermied sie vor zudem das Eingeständnis, auf einen einzigen Leitganter zu setzen. Denn neben Joschka waren die anderen Küken.

Kurz nach dem Parteitag in Kiel ist die Wildgans-Debatte bei den Grünen wieder aktuell. So wie die Gänse mit ihrem durchdringenden Ruf jetzt über den Himmel ziehen, sollten auch die Grünen langsam klären, wer sie vor der Bundestagswahl anführen soll.

Doch dafür müssten sich die Vier einigen, die parteiintern "the big four" genannt werden - die ParteichefInnen Claudia Roth und Cem Özdemir, und die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin. Sie beäugen sich misstrauisch, jeder ist auf seinen Vorteil bedacht und gönnt dem anderen nicht die Brotkrume vor dem Schnabel.

Strahlt keine Nestwärme aus

Ganter Jürgen befindet sich im Wettflug vorn. Nicht nur, dass die Bundestagsfraktion seit jeher das Machtzentrum der Grünen bildet, verschafft ihm Vorteile, sondern auch seine Kompetenz in Finanz- und Europafragen - er wird in der Krise als wichtigste grüne Stimme wahrgenommen. Leider strahlt er keine Nestwärme aus.

Gans Renate ist zurückgefallen, ihr Misserfolg in Berlin hat ihr die Flügel gestutzt. Das nutzt Ganter Cem. Er kommt wie sie aus dem Realo-Nest, und wittert die Chance, zu Jürgen aufzuschließen. Gans Claudia schließlich schnäbelt am besten mit der Kolonie, weiß also, wie die Basis tickt.

All dieser Ehrgeiz, gepaart mit Missgunst, macht die Kür schwer genug, wenn die Parteiflügel überein gebracht werden müssen. Doch ein Parteitagsbeschluss verkompliziert das Ganze noch. Er lautet: Mindestquotierung. Bei der Spitzenkandidatenkür soll also Geschlechtergerechtigkeit herrschen, nur eine Bundesversammlung kann Ausnahmen beschließen.

Viele Grünen-Frauen legen diese Formel jetzt so aus, dass sich damit die Leitganter-Lösung - Joschka oder Jürgen vorn - erledigt hat, weil sie an der Basis nicht durchsetzbar wäre. "Meine These ist: Es wird nicht passieren, dass ein männlicher Spitzenkandidat abgesegnet wird", sagt etwa Vorstandsmitglied Astrid Rothe-Beinlich.

Arithmetische Aufgabe

Wenn das stimmt, wird die Kandidatenkür zu einer komplexen, arithmetischen Aufgabe. Wenn Jürgen (männlich, links) als gesetzt gelten soll, müsste nämlich Renate (weiblich, realpolitisch) neben ihm Spitzenkandidatin werden. Geht aber nicht, weil sich dann Cem (männlich, auch realpolitisch) zurückgesetzt fühlt. Denn er ist im Realo-Nest stärker geworden, während Renate verloren hat.

Jürgen plus Cem - zwei Ganter - geht natürlich überhaupt nicht, da würden die Gänse rebellieren. Was dazu führt, dass ein Quartett - zwei Gänse und zwei Ganter nebeneinander - wahrscheinlicher wird.

Doch die Deutungen des Quotierungsbeschlusses gehen auseinander. "Ausnahmen per Basisbeschluss sind ja gerade zugelassen", sagt ein Parteistratege. "Das Trio plus Eins ist also zum Beispiel möglich."

Der Leitganter müsste also eine Bundesversammlung von seinem Führungstalent überzeugen. Auf dass diese laut und begeistert schnattert: Flieg, Jürgen, flieg!

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12 Kommentare

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  • HL
    Hauke Laging

    Der Artikel wirkt etwas aus der Zeit gefallen, erscheint er doch wenige Tage nach der BDK, auf der extra die Satzung geändert wurde, um eine Urwahl zu ermöglichen.

  • H4
    Holger 40

    „Wildgänse rauschen durch die Nacht - Mit s c h r i l l e m Schrei nach Norden...“ dichtete Walter Flex schon 1916/17, nachdem er den Damen Roth und Künast im Traum begegnet war. Zu Claudia R. noch folgendes: Wer es kompetenzfrei geschafft hat, an die Spitze der Grünen zu gelangen, muß nicht hochintelligent sein. Dafür braucht‘s nur Bauernschläue und moralischen Alarmismus.

  • HD
    Hajdy Do Bajdy

    Es geht nicht nur um politisch korrekt

     

    Es geht darum ein System zu schaffen, dass es ermöglicht unabhängig zu werden von „Persönlichkeiten“. Die Sache ist ja diese, dass die Grünen mit J. Fischer ein Feigenblatt gefunden haben. Wenn man die Aussagen von Joschka analysiert, so sind diese doch recht oberflächlich. Ha, der US-Bürgerkrieg war „gegen“ Sklaverei. Mensch, da hätte es doch dann Martin Luther King erst gar nicht geben dürfen.

     

    Die Grünen haben es nicht geschafft um ein System einzurichten, dass es unabhängig von „Persönlichkeiten“ macht. Dies müsste man genauer analysieren.

    Hier könnte man fragen, was eben Alternative bedeutet. Z. B., eine Alternative zu Stuttgart21 scheint es für eine Mehrheit in BW nicht zu geben. Es ist natürlich verständlich, dass es nach einer so langen Zeit der Einheitspartei in BW seine Probleme gibt. BW war ja bis jetzt ein Synonym für die CDU.

    Alternativen könnte Pilotprojekte bedeuten. Raum für Pilotprojekte schaffen, die sich dann bewehren oder auch nicht. So ungefähr wie bei einem mathematischen Prinzip, dass nach erfolgreicher Prüfung seine Anwendung findet.

     

    Bei dem Vergleich mit Wildgänsen ist es wichtig, dass man die Individualität, die unserem Europäertum zu Grunde liegt, nicht mit dem Führertum (Vozhdivstvo) einer Horde verwechselt. Also die Persönlichkeit als Individualität verstehen. Die Leistungsfähigkeit durch die Vielfalt.

    Außer Fischer gibt es genug Fachgrüne, die viele Gesetzesvorlagen in Gang gebracht haben, die es erst ermöglicht haben, damit Strom aus alternativen Quellen erzeugt werden konnte. Es gibt also auch einen Bereich der Grünen, der beim einfachen Volk nicht ankommt, jedoch Systemrelevanz hat. Doch dies reicht nicht aus und muss eine breitere Basis bekommen.

    Es ist auch klar, dass bei hohen Strompreisen die Internetrevolution zur Absurdität geführt wird.

  • S
    Schattenfels

    "Grüne wie Jürgen Trittin oder Claudia Roth haben mehr mit Wildgänsen gemeinsam, als man denkt. Ihr Sozialverhalten ist komplex. Sie sind hochintelligent..."

     

    Die Claudi ist vieles, aber sicher nicht hochintelligent. Der Vergleich mit einer Gans ist aber natürlich dennoch zulässig, wenn auch eher unter den Gesichtspunkten der Lautmalerei und der Anmut, die leider in diesem parteipolitisch gänzlich unabhängigen und wie immer lobenswert grünenkritischen Artikel etwas zu kurz gekommen sind.

    Wünschenswert wäre ebenfalls, dass sich Claudi & Co. langsam für die nächsten Monate nach Afrika aufmachen; gerade als Berliner habe ich vom komplexen Sozialverhalten der Grünen erst mal den Schnabel voll. (Auch wenn der unterhaltsame Häme-Faktor anfangs zugegebenermaßen sehr hoch wahr...)

  • H
    Hochinteligent?

    Nett, daß sie uns hochinteligent nennen. Diesbezügliche Vergleiche mit Claudia Roth verbitten wir uns aber. Gruß, die Wildgänse.

  • V
    vic

    Ich würde mich beeilen wenn ich Gans wäre, Weihnachten steht vor der Tür.

    Da brät man schneller in der Röhre als man denkt.

  • B
    Bremer

    Ob man will oder nicht, die persönliche Ausstrahlung der SpitzenkandidatInnen spielt eine wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung.

     

    Künast hat die Feder überspannt und hat es in Berlin verkackt. Ihrer Person ist auch der darauf folgende Absturz zu verdanken.

     

    Roth ist leider "voll 80er". Mit ihrer ständig geöffneten Empörungsbude wird sie keinen Blumenstrauß gewinnen.

     

    Das Wahlvolk hungert nach positiven Visionen, nicht nach Westerwelle in weiblich.

     

    Trittin ist mit Sicherheit kompetent, doch leider kein Papa oder Erklärbär.

     

    Özdemir kommt leider *sorry* leicht schmierig rüber. Wenn ich ihn für eine Filmrolle besetzen müsste, würde er einen Gebrauchtwagenhändler spielen müssen.

     

    Die Grünen bräuchten einen Willy Brandt, einen Visionär. Den konnte Fischer ganz gut spielen und er konnte Kompetenz ausstrahlen.

     

    Leider haben die Grünen kein personelles Highlight zu bieten.

    Und da im grünen Spitzenteam "alle gegen alle" spielen und die Grünen scheinbar die Hauptstrategie verfolgen, keine rot-rot grünen Mehrheiten zu realisieren, werden wir 2013 Merkel III. erleben.

     

    Mensch, reißt Euch zusammen, knüpft inhaltliche und personelle Brücken zu den Linken und entwickelt eine positive, konstruktive, linke gesellschaftliche Vision, mit der man Merkel ablösen kann.

     

    Aber macht es JETZT und zeigt den unbedingten Willen, strategische Mehrheiten links der Union realisieren zu wolle. Wenn nicht, werdet Ihr 2013 dieselben Gesichter machen, wie zur Berlin-Wahl 2011. Das schwöre ich Euch jetzt schon!

  • EJ
    Elmer J. Fludd

    Gänse haben aber kein Quoten-Problem. Pech für Cem: Als Migrant und Frau wäre er unanfechtbar gewesen. Aber im Grün-Quartett sticht Frau immernoch Migrant.

  • S
    Stefan

    Die Grünen-Basis ist wohl von keinem der Kandidaten überzeugt.. und ganz bestimmt nicht von Jürgen!

  • AH
    Aus Haching

    An diesem Artikel kann man wie unter einem Brennglas die Idiotie der Quote sehen. Entscheidend soll also sein, wie das Kandidatenperson zwischen den Beinen beschaffen ist, zudem noch die Zugehörigkeit zu einem politischen Flügel.

     

    Die beiden entscheidenden Fragen: Kann die Partei mit diesen Personen Wahlen gewinnen und für welche politischen Inhalte steht diese oder jene Person? scheinen dagegen irrelevant zu sein. Und dann solle eine durchqoutierte Gesellschaft besser, schöner, gerechter, wohlhabender usw. sein als eine, bei der die (wahrgenommene) Leistung zählt?

  • MB
    Max Biber

    Ihr Vergleich mit den Wildgänsen hinkt schon im zweiten Satz. Wildgänse mögen hochintelligent sein, aber Grüngänse wie Claudia und Cem erreichen höchsten Brotniveau.

  • SK
    Spitzen kandidat

    Wenn ich Pirat, SPD oder CDU wäre, würde ich den Grünen ein kostenloses Appstimmsystem stellen. Dann kann die Basis dem Jürgen mal erzählen was sie von der EBook-Preisbindung oder Kurzarbeit oder Aktienverlusten bei Solarfirmen hält.

    Oder das gewisse Leute bitte mal ihre Flugmeilen outen sollten.

    Hätten die Grünen nicht auch den Präsidenten stellen können oder habe ich das falsch in Erinnerung ?

    An den UMTS-Tarifen und DSL-Verfügbarkeit waren die Grünen doch auch beteiligt. Und an der GEZ-HD-Einführung mit nur 720 anstelle 1080 mit doppelt so viel Pixeln. Und wer hat keine Kältebrücken dank Bauschaum-Mafia-Subsubsubunternehmern und Fensterneuerungs-Gesetz ?

    Sie haben 7 Jahre regiert. Wer kann sich erinnern ? Wo kriegt man mehr korrekte Antworten ? "Nennen sie 10 große Heldentaten von rot-grün" oder "Nennen sie 10 große Heldentaten von und zu Guttenberg" ?

     

    Wer abgewählt wurde oder zurückgetreten ist, sollte nie wieder regieren. Oder sollen Kohl+Guttenberg zurückkehren ? Oder Schily ?

     

    Spitzenkandidaten

    braucht man nur, wenn man sich für Kanzler-stellend hält. Wir erinnern an Projekt 18%. Wir wussten nur nicht, das anscheinend die Krankenkassenbeiträge gemeint waren.

    Republikaner folgen Alpha-Tieren definitionsgemäß wie ein Wal-Rudel in den Tod am Strand (z.B. in der Schweinebucht). Demokraten sind eigenständig und brauchen sowas nicht.

     

    Wenn Trittin wäre, würde ich erklären, das bei Regierungswechsel Verträge der Vorgänger nicht einzuhalten sind. Das müssen die Auftragnehmer einkalkulieren und gilt natürlich automatisch für alle Verträge die ab "morgen" unterzeichnet werden (wenn mans im Regierungsblatt verkündet). Sowas hätte Kretschmann für S21 auch besser mal tun können um die Zusatzkosten zum mindern. Ob Jürgen diese Idee selbst bekommt ? Ob sie ihm irgendeine grüne Basis-App mitteilt ?

    Wer umzieht muss auch nicht die Mobilfunk-Verträge seines Vorgängers übernehmen.

    Dass könnte und muss man als Jürgen eigentlich jetzt heute schon klarmachen.

    Ich sehe nicht ein, Milliarden für die Galileo-Abwicklung wie schon vielleicht für S21 bezahlen zu sollen. Oder für Gesundheits-Karte-3 oder Elena-2 oder Toll-Collect-2 oder Hartz4-Software-die-wievielte-auch-immer... .