Großvögel in Deutschland: Wie sich das „normale Bild“ verändert
Eine Straußenart wird nach Deutschland eingeschleppt, eine heimische Großvogelart stirbt aus. Von Trappen und Nandus.
Sie müssen hier irgendwo sein. Vorgestern hat Ranger Mario Axel mehrere gesehen, heute Morgen noch keinen Einzigen. Der Raps steht hoch und blüht gelb, da müssen sie nur die Köpfe einziehen.
Abrupt hält Axel den Wagen an, seine Augen werden schmal. „Da ist einer.“ Auf einem Hügelkamm, über einem grünen Meer aus jungem Weizen, leuchtet etwas Hellgraues in der Sonne: ein langer Hals auf einem gedrungenen Körper, der Kopf zuckt nach links und rechts. Axel setzt seinen Rangerhut auf und stapft den Hügel hinauf.
Und da steht er: Rhea americana, der Nandu. Ein Laufvogel, kleiner als ein Strauß, heimisch in Südamerika und inzwischen auch im Biosphärenreservat Schaalsee in Nordwestmecklenburg, zwischen Utecht und Schattin, seit um die Jahrtausendwende ein paar Tiere aus einer Zuchtfarm in Schleswig-Holstein ausgebüxt sind und gleich über die Wakenitz nach Mecklenburg rübergemacht haben.
Kommen
Zu DDR-Zeiten hätte es das nicht gegeben, da ist sich Axel sicher. Ein Tier dieser Größe wäre niemals über die Grenze gekommen. Nandus können nicht fliegen.
Der Nandu auf dem Acker dreht Axel kokett halb den Rücken zu, äugt immer wieder zurück. Er würde dem Ranger bis an die Schulter reichen, doch näher als 20 Meter lässt er ihn nicht heran. Dann stakst er durch die Fahrrinne eines Traktors davon.
Vermutlich ist es ein Weibchen. „Die Schwingen der Hähne hängen etwas tiefer über die Keulen“, erklärt Axel. Außerdem brüten die Hähne jetzt.
Die Verhandlungen zwischen Eurogruppe und griechischer Regierung sind gescheitert, die Banken geschlossen, am Sonntag stimmen die Menschen über das weitere Vorgehen ab. Es ist eine Woche, in der nichts mehr sicher scheint. Vier Griechen führen für uns Tagebuch. Lesen Sie ihre Einträge in der taz.am wochenende vom 4./5. Juli 2015. Außerdem: Fast übermächtig scheint Google zu sein. Als Konzern, der sich in allen Lebensbereichen breitmacht. Ein britisches Ehepaar wollte das nicht akzeptieren und hat dagegen geklagt. Und: Auch Neil Young hat sich auf seinem neuen Album einen großen Gegner vorgenommen: Er singt gegen den Chemiekonzern Monsanto an, der mit genmodifizierten Pflanzen Milliarden macht. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ein Nandu-Hahn begattet fünf bis sieben Hennen, die er alle zu seinem Nistplatz mitnimmt. Axel hat schon Gelege auf Feldern, im Wald, auf Wiesen und im Moor gefunden.
Sobald das erste Ei in der Mulde liegt, beginnt der Hahn zu brüten und lässt keine Henne mehr heran. Die legen die Eier dann entweder in die Nähe und der Hahn rollt sie sich unter – oder sie legen sie dem nächsten Hahn hin. So ziehen im Herbst Patchworkfamilien mit bis zu 20 Küken über Mecklenburgs Felder.
Dass der Nandu in Mecklenburg überlebt, hätten ihm nur wenige zugetraut. Tatsächlich sind im Winter 2009/2010 die meisten Küken verhungert. Da hatte es schon im November heftig geschneit. Der Nandu ist das Scharren nicht gewohnt.
Erste „Nandu-Opfer“
Davon abgesehen haben sie sich in den 14 Jahren, die Axel hier Ranger ist, kontinuierlich vermehrt. Die jüngste Zählung vom 27. März ergab 122 Nandus. Sogar jenseits der bisherigen Nordgrenze, der A 20, sind welche aufgetaucht.
Wir sind dann mal weg
Weil der Nandu sich seit über zehn Jahren in freier Wildbahn fortpflanzt, hat er sich ein Bleiberecht erkämpft: Er ist jetzt eine heimische, besonders geschützte Art nach Paragraf 7 des Bundesnaturschutzgesetzes. Abschuss verboten.
Das freut die Touristen und ärgert die Bauern. Die klagen, der Nandu mache ihnen den Raps kaputt. Ranger Axel bezweifelt das. „Der Nandu frisst wie ein Reh: er knapst mal hier was ab und mal da.“
Trotzdem hat ein Landwirt beim Umweltministerium in Schwerin Schadenersatz beantragt. Bekommen hat er nichts, die Presse aber bekam ihre Geschichte vom „Nandu-Opfer“.
Wer heute bei ihm anruft, seine Frau an den Apparat bekommt und sich als Journalist vorstellt, erntet ein genervtes „Von welcher Zeitung?“. Der NDR, das ZDF, Spiegel TV, alle seien da gewesen, sie hätten es langsam über. „Kommen Sie einfach vorbei, die rennen hier überall rum“, sagt sie und lässt offen, ob sie Nandus meint oder Reporter.
Mario Axel fährt rechts ran, er hat noch einen Nandu gesichtet. „Der wird gleich die Straße überqueren.“ Hat der Nandu eine Laufrichtung eingeschlagen, ist er kaum davon abzubringen.
In der Gegenrichtung hält ein Auto aus Hamburg, ein hagerer Herr mit Bart baut ein Fotostativ auf.
Teilkasko deckt nur Haarwild ab
An der Straße zögert der Vogel, dann läuft er rüber und springt über den Straßengraben mit der Eleganz eines Sofas, das man aus dem Fenster wirft.
Es sind schon Nandus bei Verkehrsunfällen umgekommen. „Für die Autofahrer war das ärgerlich“, erzählt Axel, „weil die Teilkasko nur Haarwild abdeckte“.
Ein paar angenagte Rapspflanzen und ein paar verbeulte Motorhauben – größere Schäden hat der Nandu in Mecklenburg bisher nicht angerichtet. Es sei „relativ eindeutig nachgewiesen“, sagt Axel, „dass die Tiere keinen wesentlichen Einfluss auf bestehende Populationen und Arten haben“.
Und was hält er selbst vom Nandu in seinem Revier?
Da windet er sich, sagt zweimal: „Meine private Meinung spielt keine Rolle.“ Und dann, diplomatisch: „Ich habe einen dienstlichen Auftrag, diese Tiere zu beobachten. Bleibt natürlich die Frage, ob sie inzwischen zum normalen Bild gehören oder ein Störfaktor sind.“
Bleiben
Während manch einer im Norden die robusten Nandus zum Teufel wünscht, wird 170 Kilometer weiter südöstlich ein Riesenaufwand betrieben, um ähnlich große Vögel zu retten. Die Großtrappe gehörte jahrhundertelang zum „normalen Bild“ in Brandenburg. Heute jedoch ist sie fast ausgestorben.
Dabei hat sie, der größte Vogel Europas, gegenüber den Nandus zwei entscheidende Vorteile: Sie kann trotz ihrer 18 Kilo fliegen, und sie hält Hunderte Meter Abstand zu Menschen. Doch Mähdrescher und Kunstdünger hätten ihr beinahe den Rest gegeben.
Nach der Wende haben das Land Brandenburg, der Nabu und ein Förderverein Flächen gekauft und unter Auflagen verpachtet. Sie brüten Trappeneier in einem Inkubator aus. Sie schützen die Küken mit Zäunen und Netzen vor Füchsen, Mardern und Adlern.
An einem Sonnabend Anfang Mai sitzt Birgit Block auf einer Holzbank vor der Vogelschutzwarte in Nennhausen, Ortsteil Buckow, westlich von Berlin. Sie trägt Sandalen und ein Poloshirt mit Schmetterlingen drauf. In Sichtweite klappert der Storch, über Birgit Block kreist ein Mäusebussard. „Oh“, unterbricht sie das Gespräch, „die Waldohreule ruft.“ Dann zückt sie die Kamera, um eine Schafstelze zu fotografieren.
„Trappenmutti“ nennen die Kollegen sie. Da ist sie verlegen, „ich sammle noch die wenigsten Eier ein“. Seit 1984 arbeitet sie hier. Eben hat sie drinnen noch durchgewischt, unter den Augen der ausgestopften Vögel in den Vitrinen, und die Kaffeetassen der letzten Wandergruppe in die Spülmaschine gestellt. Für den Nachmittag haben sich noch mal fast 30 Besucher angesagt. Sie wollen den größten Marketing-Schlager der Vogelschützer sehen: die Trappenbalz.
„Dumpfer Blupston“
Dafür lassen sich die Hähne extra einen Bart stehen und entwickeln kräftig rostbraunes Brustgefieder. Sie stülpen ihre Flügel um und klappen den Bürzel hoch, sodass strahlend weiße Daunen zum Vorschein kommen. Sie blasen ihren Kehlsack auf und betören die Hennen mit einem „dumpfen Blupston“ aus ihrer Kloake. So heißt es in einem Lehrfilm, den die Vogelschutzwarte auf DVD verkauft.
Ein Furz sei das aber nicht, betont Birgit Block, „es hat ja nichts mit der Verdauung zu tun“.
Im 18. Jahrhundert gingen noch Tausende Großtrappen den preußischen Bauern auf die Nerven, weil sie die Saat vom Acker futterten. Friedrich der Große gab den „märkischen Strauß“ zum Abschuss frei – nicht ohne Schonzeiten festzulegen. In Planwagen versteckt robbten sich Jäger an die scheuen Vögel heran. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fuhr das Berliner Großbürgertum gern raus zur Trappenjagd.
Das ist längst verboten.
Gehen
Am späten Nachmittag führt Birgit Blocks Kollege Hans Joachim König einen Autokorso zu einer zweistöckigen Holzhütte. Die Trappenfans klettern die Leitern zur Aussichtsplattform hoch, sie lassen sich nicht beirren von den zeternden Rauchschwalben, die ihnen um die Köpfe schwirren und von den Dachbalken kacken. Sie richten ihre Feldstecher auf weiße Stecknadelköpfe, die sich in etwa einem halben Kilometer Entfernung über die Wiese schieben.
Dort hinten balzen die Hähne.
Drei oder vier graubraune Trappendamen begutachten einen Haufen Plüsch in Weiß und Rostbraun, einen stolzierenden Schneeball.
„Wenn kein Weibchen da ist, balzen sie auch Rehe an“, sagt König.
Eine Kopulation hat er erst ein einziges Mal gesehen. „Das ist der Jackpot“, sagt er. Allerdings nicht für die Hennen: Der Hahn verbeißt sich dabei in ihrem Hinterkopf, reißt ihr Federn und Kopfhaut ab.
Exakt 77 Großtrappen leben noch – oder wieder – hier, im Havelländischen Luch, etwa 200 in ganz Deutschland. „Erst vor ein paar Tagen haben wir wieder einen schönen alten Hahn eingebüßt“, erzählt Birgit Block. Sie ist dann rausgefahren und hat die Reste eingesammelt. Die Spurensicherung ergab: Es war der Seeadler. Birgit Block wäre es lieber, der Adler schlüge mehr Kraniche oder Gänse.
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